Beim Bergsturz sind am 23. August acht Wanderer ums Leben gekommen. Der italienische Bergführer Guido Lisignoli ist ihnen kurz zuvor noch begegnet. Offenbar hat man sich an diesem Tag nicht wirklich Sorgen wegen des Piz Cengalo gemacht – war sich der Gefahr nicht bewusst: «Mit den ersten Wanderern haben wir einfach über das Wetter gesprochen. Sie wollten wissen, wie die Prognose ist. Bei den anderen haben wir uns gegrüsst, wie man es unter Bergsteigern tut. Du denkst doch nicht daran, dass dann so etwas geschieht», sagt Lisignoli.
Die Wanderer haben zuvor in der Sciora-Hütte übernachtet. Die Hüttenwartin Barbara Salis erzählt: «Sie haben gesagt, das passiert sicher nicht, wenn wir runtergehen. Das passiert uns nicht.»
«Nicht viel überlegt und weitergegangen»
Die «Rundschau» und das Magazin «Faló» des Tessiner Fernsehens RSI haben noch weitere Augenzeugen getroffen. Die Berner Bergsteigerin Marianne Aegerter durchquerte das Gefahrengebiet 24 Stunden vor dem Unglück. Zu den Warntafeln sagt sie: «Die Schilder haben nirgends gesagt, man dürfe nicht durchwandern. Wir haben gar nicht viel überlegt und sind dann einfach weitergangen». Sie sei sich der drohenden Gefahr «überhaupt nicht bewusst» gewesen.
Der Bergsturz werde «in den kommenden Wochen oder Monaten» niedergehen, steht auf den Schildern, die zwar am 14. August 2017 aktualisiert, jedoch schon vor mehreren Jahren aufgestellt worden sind. Doch: «Schlussendlich trägt man ja selber die Verantwortung, wenn man in den Bergen unterwegs ist», meint Bergsteigerin Aegerter.
Ich habe erst im Nachhinein von der Gefahr erfahren.
Der italienische Bergsteiger Luigi Valtorta fuhr am 23. August ins Val Bondasca – am Tag, an dem der Berg kam. Er stellte sein Auto beim Parkplatz zuoberst im Tal ab. Als er sich für den Aufstieg zur Sciora-Hütte bereitmachte, donnerte der Bergsturz wenige Meter an ihm vorbei. Valtorta: «Ich habe erst im Nachhinein von der Gefahr erfahren. Wenn ich es vorher gewusst hätte, wäre ich nicht hinaufgefahren.» Er habe bis zum Parkplatz keine Warntafeln gesehen. Im Nachhinein sei man zwar immer gescheiter, sagt Valtorta: «Aber ich hätte das Tal geschlossen.»
Die Talstrasse, welche komplett vom Murgang zugeschüttet worden ist, war tatsächlich nicht mit Warnungen ausgeschildert. Erst nach mehreren Kilometern Fahrt über eine Mautstrasse, für die Autofahrer 10 Franken bezahlen mussten, stand die erste Warntafel. Beim Parkplatz weit oben im Val Bondasca.
Gemeindepräsidentin wehrt sich
Die Gemeindepräsidentin von Bergell, Anna Giacometti, weist die Kritik zurück. Die Gemeinde habe alles Mögliche getan, um Wanderer und Alpinisten vor der drohenden Gefahr zu warnen. «Nicht zu übersehbare Warntafeln» seien an den Parkplätzen der Val Bondasca und bei den zwei SAC-Hütten gestanden. «Die Warntafeln waren sehr professionell gemacht. Mit einem Gefahrenzeichen sowie in den Sprachen Deutsch, Englisch und Italienisch. Deshalb kann ich diese Kritik nicht akzeptieren.» Und bei Touren im Hochgebirge sollten Alpinisten sich vorher immer richtig über die Lage informieren.
Lange war nicht klar, wo die acht Bergsteiger in der Val Bondasca verschüttet wurden. Nun kann die Gemeinde Bergell auf Grund von Aussagen anderer Wanderer das Gebiet eingrenzen: Die acht Opfer hätten in der Sciora-Hütte übernachtet und seien am Morgen talwärts in Richtung Parkplatz gewandert, sagt Giacometti: «Vermutlich waren sie dann am Ende des Weges im Val Bondasca als der Bergsturz kam – also im roten Gefahrenbereich der Warntafel.» Das Unglück ist zurzeit Gegenstand polizeilicher Ermittlungen.
Murgang «nicht überraschend»
Auch die Fachwelt beschäftigt sich mit dem Unglück. Gegenüber der «Rundschau» hinterfragen Wissenschaftler, ob man die Schlammlawine (Murgang), die bis ins Dorf Bondo hinunterreichte, tatsächlich nicht vorhersehen konnte. Der Glaziologe Reynald Delaloye der Universität Fribourg ist nicht erstaunt über den Prozess: «Dass ein Bergsturz auf einen Gletscher einen Teil des Gletschers mitnimmt und einen Murgang auslöst, ist wissenschaftlich nicht überraschend».
Das Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden antwortet der «Rundschau» auf die Kritik der international forschenden Wissenschaftler: «Der unmittelbare Übergang von einem Bergsturz in einen Murgang gilt weltweit als ausserordentlich selten». Das Amt halte deshalb daran fest, dass es nicht mit dem direkten Murgang durch das Val Bondasca rechnen musste. «Am Piz Cengalo löste eine extrem seltene Verkettung von Ereignissen den unmittelbaren Murgang aus.»
Andreas Kääb jedoch, Geowissenschaftler an der Universität Oslo, ist gleicher Meinung wie Glaziologe Delaloye. Würde man Experten, die sich international mit diesem Thema beschäftigten, ein Bild des Piz Cengalo vorlegen, «dann kommen wahrscheinlich einige darauf, dass ein Bergsturz dort Gletschereis mitnehmen und verflüssigen könnte – und dann zu einem Murgang würde», sagt Kääb.