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Besuch in Göschenen In der Mitte Europas, am Ende der Welt

In den Bergtälern im Urnerland und Tessin wird es ruhiger – die meisten Züge fahren künftig untendurch, durch den Gotthard-Basistunnel. Das freut viele Ansässige nicht, das berühmte Tunneldorf Göschenen etwa erlebt einen Bedeutungsverlust. Was sind die Perspektiven? Ein Besuch.

Wenn es klingelt, dann hat Philipp Ghenzi zu tun. Dann gibt der Zugverkehrsleiter in Göschenen auf dem alten grünen Stellwerkpult die Strecke frei: «Nun habe ich das Signal aufgemacht. So kann der Zug ohne Probleme passieren».

Ghenzi mag es, dass die Züge vor seinem Arbeitsplatz durchbrausen. Bald werden es weniger sein, nur noch rund 50 Züge täglich, statt bis zu 250. Seit zwanzig Jahren arbeitet der Zugverkehrsleiter im oberen Reusstal, im Oberland. Und er hat festgestellt, wie sich die Region verändert hat: «Die Abwanderung ist gross. Aber klar, wenn die Menschen von hier zur Arbeit wollen, müssen sie mindestens bis nach Altdorf fahren.» Viele ziehen deshalb auch ins Unterland. «Jedes Jahr sind es ein paar weniger.»

Künftig halten zwar nicht weniger Züge in Göschenen, doch es sind nur noch Regionalzüge. Seine Bedeutung als Zwischenhalt auf dem Weg nach Süden hat der Bahnhof eingebüsst. Das Bahnhofbuffet ist schon lange geschlossen, unterdessen sind «Modellbähnler» einquartiert.

Paradiesische Zeiten

Auch das Mineraliengeschäft von Ruth Indergand am Bahnhofplatz hat schon bessere Tage gesehen. Die Formen und Farben der Bergkristalle faszinieren die 82-Jährige. Ihr Geschäft ist gleich alt wie der alte Bahntunnel: 134-jährig. Indergand ist hier aufgewachsen – wenig Verkehr habe es gehabt, und viele Kinder im Dorf: «Das waren paradiesische Zeiten. Wir haben damals in den alten Bahnwaggons Verstecken gespielt.»

3000 Menschen wohnten in Göschenen, als 1882 der Tunnel gebaut wurde. Auch später florierte das Dorf. Restaurants und Geschäfte lebten von der Gotthardpassstrasse. «Der Verkehr nahm ein Ausmass an, so dass man im Sommer kaum mehr über die Strasse kam», erinnert sich Indergand.

Früher reichte ein Schild mit der Aufschrift: Heute Cordon-bleu.
Autor: Kilian Elsasser Verkehrshistoriker

Dann kam die Autobahn, und heute wird Göschenen meist umfahren, das Dorf hat noch 450 Einwohner – viele Häuser stehen leer. Der Verkehrshistoriker Kilian Elsasser ist vor einigen Jahren im alten Schulhaus eingezogen. Mit ihm steigen wir in den Visierstollen – ein Hilfsstollen für den Bahntunnelbau. Elsasser sieht einen grundlegenden Wandel in Göschenen. Früher funktionierte Tourismus simpel: «Es reichte ein Schild auf der Strasse mit der Aufschrift: Heute Cordon-bleu. Man musste gar keine Werbung machen, die Leute kamen einfach.»

Heute konzentriere sich der alpine Tourismus auf grössere Zentren: «Für die kleinen und mittleren Orte ist es schwieriger, zu existieren. Auch wegen des Schneemangels.» Für Göschenen-Touristen hat Elsasser im Stollen eine Tonlichtschau installiert. Sie gehört zu einem Dorfrundgang zum Tunnelbau. «Diese Geschichte muss man einfach erzählen. Man wäre selbst schuld, wenn nicht.»

Mitte von Europa

Kai Stubenrauch steht in seiner Werkstatt. Stubenrauch kam vor zehn Jahren hierher: «Göschenen ist eigentlich genau die Mitte von Europa. Man hat hier die Anbindung zum Flughafen und sowohl die Eisen- wie auch die Autobahn vor der Tür.» Stubenrauch und seine Partnerin haben hier das alte Hotel Krone entdeckt, gekauft und Zimmer für Zimmer aufgemöbelt. 32 Betten bietet das Hotel. Im Sommer übernachten in den Zimmern mit hellblauen Holzwänden Mountainbiker, im Winter kommen Gruppen von Skifahrern – Freerider.

Stubenrauch, einst Skilehrer, spricht bewusst junge Sportbegeisterte an, als einziger Hotelier in Göschenen. «Ich habe den Eindruck, dass hier noch viele das Gefühl haben, man könne weiter machen wie bisher. Aber das ist halt nicht mehr der Fall.»

Auch andere kleine Hotels in der Region unterdessen von sportbegeisterten Paaren übernommen – durchaus ein neuer Trend. Am meisten hofft Stubenrauch auf ein Seilbahnprojekt von Göschenen direkt ins Skigebiet Andermatt-Sedrun: «Das würde ökologisch Sinn machen und wir hätten einen direkten Einstieg in die Infrastruktur. Für Göschenen wäre das wie ein Sechser im Lotto.» Noch ist aber offen, ob die Seilbahn je kommt.

Jetzt, in der Zwischensaison, liegt Göschenen wie ausgestorben da. Nur das Bistro im Bahnhof ist abends bis halb sieben geöffnet. Auch Silvan und Roman treffen sich manchmal da. Der 17-jährige Silvan liebt an Göschenen die Natur, er fischt gerne im Bach oder im Stausee – schade sei hingegen: «Wir sind zu wenig Leute, zu wenig Junge.»

Alle haben das Gefühl, das hier sei der ‹Arsch der Welt›. Aber alle fahren hier untendurch
Autor: Silvan

Die zwei Freunde packten selbst an. Am Dorfrand bauten sie einen alten Baucontainer um, erzählt Roman: «Wir hatten da einen Tisch drin und auch eine kleine Küche – so konnten wir da gemütlich einen Kaffee trinken.» Dies taten sie besonders an kalten, dunklen Abenden. Doch dann gab es Probleme mit der Baugenehmigung. Heute lagert im Container Futter und Stroh eines Bauern. «Schade», findet Roman, aber: «Egal, ob nun dort Stroh liegt und das Rössli geschlossen hat. Wir treffen uns trotzdem und reden und hören unsere Musik nun einfach auf dem Spielplatz.»

Am Scheideweg

Tagsüber arbeitet Roman als Elektriker in Andermatt, Silvan ist Maurer in Göschenen. Die beiden möchten gerne hier bleiben. «Alle haben das Gefühl, das hier sei der ‹Arsch der Welt›. Aber sie alle fahren hier durch – untendurch.» Und darum ist es ruhig hier. Das Verkehrsdorf Göschenen befindet sich am Scheideweg. Im Zentrum Europas, am Ende der Welt.

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