Rolf Müller (54) kennt die ganze Klaviatur von Stimmungsschwankungen: mal himmelhochjauchzend, dann zu Tode betrübt. Rolf Müller leidet an einer sogenannt bipolaren affektiven Störung. Er selbst nennt sie auch «manisch depressiv». Doch: Rolf Müller lebt ein fast normales Leben; er arbeitet in der Alters- und Betagtenpflege, engagiert sich in seiner Freizeit sogar in der Freiwilligenarbeit. Und monatlich ein bis zwei Mal besucht er eine Selbsthilfegruppe. In der Gruppe «bipolar» treffen sich Menschen, die ähnlich fühlen wie Rolf Müller.
Der Alkohol machte den Anfang
Rolf Müller ist einer von 43'000 Menschen, die eine Selbsthilfegruppe besuchen. Es gibt in der Schweiz etwa 2500 Gruppen zu fast 300 Themen. Die bekannteste und wohl älteste Gruppe sind die Anonymen Alkoholiker (AA). So verschieden die Gruppen sind: Gemeinsam ist allen, dass sich Betroffene selbst helfen. Das Erzählen von sich hilft bei der Bewältigung des eigenen Leidens. Zudem sind Betroffene Experten ihrer Krankheit oder ihres Problems. Sie können sich darum wertvolle Ratschläge geben.
«Selbsthilfegruppen sind eigentliche Kompetenzzentren für Alltagsprobleme», sagt Jürgen Stremlow. Er ist Professor an der Hochschule Luzern und leitet dort das Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention. Die Selbsthilfe sei innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens ein eigenständiger Leistungsbereich, führt er aus. Niemand sonst – weder Ärzte noch Psychologen – können Betroffenen in ihrer Alltagsbewältigung so helfen wie andere Betroffene.
Mehr Mittel für mehr Selbsthilfe
Die Hochschule Luzern hat in Zusammenarbeit mit der Universität Lausanne und im Auftrag der Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz eine Studie verfasst zum Thema. Insbesondere hat Jürgen Stremlow den Nutzen analysiert. Im Vordergrund steht der Nutzen für den einzelnen. Doch weil Mitglieder in Selbsthilfegruppen insgesamt eine Million Stunden Freiwilligenarbeit leisten, ist dies auch volkswirtschaftlich bedeutsam.
Was bedeutet das in Franken? Lässt sich Selbsthilfe monetarisieren? Für die Wirtschaftssendung «Trend» von Radio SRF hat sich Jürgen Stremlow nochmals über Daten und Studien gebeugt. Vor allem in Deutschland ist die Selbsthilfe gut erforscht, da sie gesetzlich verankert ist. Jürgen Stremlow hat entsprechende Studien auf Schweizer Verhältnisse umgemünzt und kommt zum Schluss, dass die Selbsthilfe in der Schweiz mit einem gesundheitlichen oder sozialwirtschaftlichen Wert zwischen 30 und 40 Millionen Franken beziffert werden kann.
Die Dachorganisation Selbsthilfe Schweiz fordert darum grössere und gesetzlich verankerte finanzielle Mittel. Dies, damit die Gründung von Selbsthilfegruppen in allen Regionen der Schweiz noch einfacher wird. Und damit möglichst viele Menschen offene Türen finden zu einer Gruppe. So, wie Rolf Müller und weitere 43'000.
Sendebezug: Trend, SRF1, 28.09.2019