Der Fall: Ein Psychiatrie-Patient erzählt in der Therapie, dass er Kinderpornos konsumiere. Daraufhin lässt sich die Klinik von den Schwyzer Behörden vom Arztgeheimnis entbinden und zeigt den jungen Mann an. Dieser wehrt sich und bekommt nun vom Bundesgericht in einem Leitentscheid Recht.
Das Urteil: Laut Bundesgericht ist die Entbindung von der Schweigepflicht nichtig. Der Patient hätte angehört und informiert werden müssen, auch wenn er dadurch hätte Beweismittel vernichten können. Nur wenn ein Leben in Gefahr sei, dürfe darauf verzichtet werden. Ob ein Therapeut überhaupt Kinderporno-Konsum melden darf, lässt das Gericht offen.
Das Paradox: Eigentlich werden Menschen mit pädosexuellen Neigungen ermuntert, Beratung und Therapie in Anspruch zu nehmen, um nicht zum Täter zu werden. Wenn Betroffene mit einer Strafanzeige rechnen müssen, werden sie sich vermutlich keine therapeutische Hilfe mehr holen.
Die Folgen: «Es ist wichtig, dass Menschen mit pädosexuellen Neigungen Hilfe bekommen, um mit ihren problematischen Verhaltensweisen umzugehen lernen», sagt Sandra Sommer von Beforemore, der Fachstelle für Prävention und Beratung bei Pädophilie. «Wenn sie sich vertrauensvoll an eine Therapeutin wenden und diese sofort mit Anzeige droht, ist das Problem nicht gelöst – weder für den Betroffenen noch für die potenziellen Opfer.»
Ein Einzelfall: Nach Einschätzung von Fachleuten ist der Fall aussergewöhnlich. In der Regel nehmen Therapeutinnen und Therapeuten die Schweigepflicht sehr ernst. Nur wenn ein Patient sich selbst oder jemand anderen gefährdet, muss dies höher gewichtet werden als die Schweigepflicht.
Kinderporno: Eine unmittelbare Gefahr für Dritte besteht durch den Konsum von Kinderpornos eigentlich nicht. Der Konsum ist zwar strafbar, weil er eine Nachfrage nach Produkten schafft, für die Kinder missbraucht werden. Aber bei Weitem nicht jeder Konsument begeht selbst Übergriffe auf Kinder. Trotzdem sind nach Erfahrung von Sommer besonders Allgemeinpsychiater häufig verunsichert, wenn ein Patient das Thema Kinderpornos aufbringt.
Das sagt die Klinik: Laut ihrem Anwalt Jonas Gassmann hat die Klinik den Entschluss gefasst, nach «eingehender Analyse des Falles und sorgfältiger Interessenabwägung» Strafanzeige einzureichen und dabei auf die rechtskräftige Entbindungsverfügung der Schwyzer Behörden vertrauen zu dürfen. «Unsere Klientin entschied sich nach Kenntnisnahme des Konsums im Rahmen der Behandlung des Patienten zu diesem Schritt, weil sie aufgrund der Umstände in diesem konkreten Fall nach bestem Wissen und Gewissen auf eine mögliche Fremdgefährdung schliessen musste.» Laut Urteil arbeitete der Betroffene als Tischtennistrainer mit Minderjährigen.
Das sagen die Schwyzer Behörden: Laut Kantonsarzt Christos Pouskoulas hebt das Gesundheitsamt des Kantons Schwyz nicht in jedem Fall automatisch die Schweigepflicht wegen Kinderporno-Konsums auf. «Es ist immer eine Abwägung.» Nach diesem Urteil reiche aber das Risiko für einen Übergriff offenbar nicht mehr aus, gemäss Bundesgericht brauche es die konkrete Gefahr eines sexuellen Übergriffs auf ein bestimmtes Kind. «Nur, wie sollen die Behörden das herausfinden, wenn die behandelnden Ärzte und Therapeuten den Ermittlungsbehörden keine Auskunft geben dürfen?» Darauf gehe das Bundesgericht in seinem Urteil leider nicht ein.
Bundesgericht 2C_332/2024