Das gab es äusserst selten in der Geschichte des modernen Bundesstaates: dass dem Bundesrat mehrheitlich lateinischsprachige Vertreterinnen und Vertreter angehören. Zum ersten Mal sassen zwischen 1917 und 1920 zwei Romands, ein Tessiner und ein Rätoromane in der Landesregierung. Seit der Wahl von Elisabeth Baume-Schneider im Dezember 2022 gibt es das nun ein zweites Mal. Mit ihren welschen Bundesratskollegen Guy Parmelin und Alain Berset sowie Ignazio Cassis aus der italienischsprachigen Schweiz sorgt sie für eine lateinische Mehrheit.
Ob die neue Mehrheit die Tonlage im Bundesrat verändert hat, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Die Sitzungen der Landesregierung sind geheim. Was die Entscheide angeht, ist für Beobachter des Politbetriebs aber klar: Es sind keine Unterschiede zu vorher erkennbar, sagt Tessiner Politologe Oscar Mazzoleni von der Universität Lausanne.
Die lateinische Mehrheit hat also keine Spuren hinterlassen im politischen Tagesgeschäft – obwohl auf der anderen Seite des Rösti- und Polentagrabens regelmässig anders abgestimmt wird. Zuletzt war das bei der Erhöhung des Rentenalters für Frauen gut zu sehen. Die Romandie und das Tessin lehnten diese ab, unterlagen aber. Wie so oft bei Fragen zur Sozialpolitik und zur Rolle des Staates haben sie eine andere Haltung geäussert. Dass sich diese nicht im Bundesrat äussert, hat verschiedene Gründe: Die Parteizugehörigkeit ist wichtiger als die Sprachfrage. Dass im Bundesrat zusammen entschieden wird und die Administration ebenfalls Gewicht hat, schränkt den Handlungsspielraum eines einzelnen Bundesratsmitgliedes ein.
Lateinische Politik n’existe pas
Aber es gibt auch selten Allianzen zwischen der Westschweiz und der italienischsprachigen Schweiz. Und gewichtige Unterschiede. So ist die Masseneinwanderungsinitiative im Tessin wuchtig angenommen worden, die Romandie hat sie hingegen verworfen. Obwohl in manchen Konkordaten unter den Kantonsregierungen zusammengearbeitet wird, gibt es keine gemeinsame Politik. Und aus den meisten Deutschschweizer Regionen ist man schneller im Tessin als aus der Romandie.
Auch die Ausgangslage der Sprachregionen ist anders. Das Tessin ist wirtschaftlich schwächer und in Bern oft ein Bittsteller für Gelder, sei es für Verkehrsprojekte oder wie aktuell für Entschädigungen wegen der Einschränkungen im Gotthardbasistunnel. Die Romandie hingegen ist ganz unterschiedlich geprägt. Das internationale Genf und der boomende Genferseeraum zwischen Genf und Lausanne haben ganz andere Interessen als der ländliche Kanton Jura oder der Neuenburger Jura. In der französischsprachigen Schweiz werden zwar gemeinsam Debatten geführt und es gibt Zusammenarbeit unter den Kantonen. Aber es ziehen längst nicht alle am gleichen Strick.
Auch wenn es keine gemeinsame Politik der lateinischsprachigen Schweiz gibt, so bleibt dennoch etwas von der lateinischen Mehrheit im Bundesrat. Die Landesregierung ist ein Gremium des Ausgleichs, früher unter Liberalen und Konservativen sowie Katholiken und Reformierten. Heute spielt die Vertretung der Sprachregionen eine wichtige Rolle, damit sich die Bevölkerung in allen Landesteilen mit der Politik identifizieren kann. Diese zweite lateinischsprachige Mehrheit im Bundesrat hat den kleineren Sprachregionen gezeigt, dass auf sie Rücksicht genommen wird. Und so bleibt ein symbolischer Wert bestehen. Aber nicht mehr.
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