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Caritas warnt Mehr Druck auf Working Poor – eine «sozialpolitische Zeitbombe»

Die höheren Lebenshaltungskosten werden vor allem für Working Poor zur Belastung. Die Caritas spricht von einer sozialpolitischen Zeitbombe, die im nächsten Frühling zu explodieren droht.

Zahle ich nun Rechnungen oder kaufe ich Lebensmittel – vor dieser Frage stehen immer mehr Menschen in der Schweiz, erzählt Lorenz Bertsch, Sozial- und Budgetberater bei Caritas. Vor allem Working Poor, die weder Anrecht auf Sozialhilfe noch Ergänzungsleistungen haben, geraten in Bedrängnis.

«Wenn eine vierköpfige Familie jetzt schon von einem Lohn von 3700 Franken leben muss und nun die Kosten für Strom, Heizung, Lebensmittel und Krankenkassen steigen beziehungsweise Mehrkosten von 200 bis 300 Franken pro Monat verursachen, dann bleiben noch 250 Franken für Lebensmittel übrig, rechnet Lorenz Bertsch vor. «Das kann nicht aufgehen.»

Im Schnitt holen jeden Samstag alleine in Zürich 1300 Familien ihre Ration Lebensmittel ab.
Autor: Amine Diare Conde Gründer des Hilfswerks «Essen für Alle»

Schon jetzt ist die Nachfrage nach Beratungen bei der Caritas um 20 Prozent gestiegen. Viele davon sind Working Poor. Sie wüssten schlicht nicht mehr, wo sie noch sparen sollten. Denn schon jetzt drehen sie jeden Franken um. Extras, Ferien, Kino – das sind Dinge, die sich Working Poor sowieso nicht leisten können. Jetzt ist aber auch nicht mehr sicher, ob man sich das Fussball-Training der Tochter leisten kann.

Steigende Armut in der Schweiz

In der Schweiz lebten im Jahr 2020 gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) 722'000 von Armut betroffene Menschen. Etwa 1.3 Millionen galten als armutsgefährdet. Die Caritas geht etwa von 500'000 bis 600'000 Working-Poor-Betroffenen aus.

Ein Bauarbeiter leert seine leeren Taschen
Legende: Working Poor-betroffen sind auch zunehmend Schweizerinnen und Schweizer. Caritas rechnet im neuen Jahr noch mit einer Verschärfung der Situation. Keystone/Archiv/MARTIN RUETSCHI

Eine steigende Nachfrage registriert auch die Organisation «Essen für alle», die jeden Samstag gratis Lebensmittel an Bedürftige abgibt. Seit Mitte Oktober hätten sie noch mehr Zulauf, berichtet Amine Diare Conde, der das Hilfswerk gegründet hat.

Im Schnitt holen jeden Samstag alleine in Zürich 1300 Familien ihre Ration Lebensmittel ab. Unter ihnen viele Ausländerinnen und Ausländer, Sozialhilfe-Bezügerinnen und -bezüger. «Zunehmend kommen aber auch Menschen aus der Schweiz», so Amine Diare Conde.

Zahl wird steigen

Auch unter den Helfenden bei «Essen für Alle» sind Schweizerinnen und Schweizer, auch Working Poor. Sie sind hier, um zu helfen, aber sie sind auch froh darüber, dass sie abends nach ihrem Einsatz Lebensmittel mit nach Hause nehmen dürfen.

Das Thema ist mit viel Scham verbunden. Aber es ist eine Tatsache.
Autor: Marine Schweizer Working Poor

«Niemand spricht gerne darüber, dass er auf diese Lebensmittel angewiesen ist. Das Thema ist mit viel Scham verbunden. Aber es ist eine Tatsache», sagt Marine, eine junge Schweizerin, die derzeit ein Zwischenjahr nach der Matura macht.

Eingang in einen Caritas Markt in Zürich
Legende: Hilfsorganisationen wie die Caritas-Märkte und «Essen für Alle» haben regen Zulauf. Keystone/Archiv/GAETAN BALLY

Schon jetzt werden jeden Samstag in Zürich zwischen 16 und 20 Tonnen Lebensmittel verteilt. Und es dürften künftig noch mehr gebraucht werden. Denn Gründer Amine Diare Conde ist überzeugt, dass die Zahl der Hilfsbedürftigen in den nächsten Monaten weiter steigen wird.  

Eine sozialpolitische Zeitbombe

Auch die Caritas schaut mit sorgenvollem Blick nach vorne. Lorenz Bertsch rechnet damit, dass sich im nächsten Frühling die Situation noch einmal verschärft, wenn die Prämienrechnungen der Krankenkassen reinflattern. «Die sprengen das Budget endgültig», ist Bertsch überzeugt. Da ticke eine «sozialpolitische Zeitbombe», die dringend entschärft werden müsse.

Als grossen Hebel sieht Bertsch eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Vor allem sei es an der Zeit, dass der Bund sich endlich um die Gruppe der Working Poor kümmere, eine Gruppe, die schlicht vernachlässigt werde, sagt er.

10vor10, 21.12.22, 21:50 Uhr

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