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Corona und die Dunkelziffer «250'000 bis 400'000 haben sich mit dem Coronavirus angesteckt»

Am Montag wurde in einem Beitrag von «10vor10» zum Thema differenzierte Durchseuchung sinngemäss gesagt, die Schweizer Covid-Taskforce geht von einer Sterblichkeitsrate zwischen 0.5 und ein Prozent aus. Dabei sei die Dunkelziffer – also die nicht getesteten Infizierten – nicht einberechnet. Die Taskforce betont jedoch, dass in allen Studien, welche sie als Basis für Empfehlungen verwendet, die Dunkelziffer einberechnet sei.

Wie man die Dunkelziffer mit einberechnet und wie hoch sie ist, erläutert Martin Ackermann im Interview mit SRF News.

Martin Ackermann

Chef der Covid-19-Taskforce

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Der Experte für Mikrobiologie, Prof. Dr. Martin Ackermann, ist seit dem 1. August 2020 der Chef der Covid-19-Taskforce des Bundes. Ackermann ist seit August 2008 ausserordentlicher Professor für molekulare mikrobielle Ökologie am Institut für Biogeochemie und Schadstoffdynamik der ETH Zürich.

SRF News: Herr Ackermann, wie kamen Sie zu der Dunkelziffer?

Martin Ackermann: Epidemiologinnen und Epidemiologen gingen davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Infizierten von SARS-CoV-2 nicht gefunden werden. Sei das, weil sie nur wenige Symptome haben oder aus anderen Gründen sich nicht testen liessen. Eine wichtige Studie der Universität Genf zeigt, dass diese Schätzung beim Covid19-Virus korrekt ist.

Und wie wirkt sich das auf die Berechnung der Sterblichkeitsrate aus?

Die Infektionssterblichkeit wird berechnet, indem man die Anzahl Todesfälle mit der geschätzten Anzahl der infizierten Personen (inklusive der Personen, die infiziert, aber nie getestet wurden) ins Verhältnis setzt. Dieselben Autoren haben übrigens in einer zweiten Studie eine Sterblichkeit von 0.64 Prozent im Kanton Genf berechnet. Alle Studien, welche die Taskforce als Basis für ihre Empfehlungen verwenden, berücksichtigen die Dunkelziffer.

In diesem Szenario müsste man mit mehreren zehntausend Toten rechnen – eine enorm hohe Zahl!

Weiterhin kann man sagen: Unter den Forschenden weltweit gibt es einen grossen Konsens. Die Infektionssterblichkeit liegt zwischen 0.5 und 1 Prozent. Mit diesem Wert rechnet auch die WHO.

Konkret gefragt: Wie viele tatsächlich Infizierte gibt es gemäss der Covid-Taskforce bisher in der Schweiz?

Wir gehen davon aus, dass sich bis zum jetzigen Zeitpunkt in der Schweiz zwischen 250’000 und 400’000 Personen infiziert haben. Verschiedene Studien unterstützen diese Schätzungen.

Diese Studien schätzen die Dunkelziffern ein

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Das sind relativ viele Menschen. Eine gewisse Durchseuchung scheint es schon gegeben zu haben?

Das tönt nach viel, aber man muss sich bewusst sein: Das sind nur drei bis fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung. Wir wissen zudem nicht, ob diese Menschen nun immun sind gegen Sars-CoV-2 und wie lange eine Immunität anhält. In einem Durchseuchungs-Szenario müsste man mit mehreren zehntausend Toten rechnen – eine enorm hohe Zahl!

Die Erfahrung zeigt, dass es sehr schwierig oder unmöglich ist, die Risikogruppen zu schützen, gerade, wenn man hohe Fallzahlen hat.

Was die möglichen Langzeitfolgen für die Menschen wären, die Covid-19 überstanden haben, ist nicht abschliessend geklärt. Ein weiteres Problem ist, dass es sehr lange gehen würde, bis die Schweiz durchseucht ist. Wir schätzen im Minimum ein Jahr. Eine solche Situation mit konstant hohen Fallzahlen wäre für die Wirtschaft und Gesellschaft verheerend.

Gilt das auch für die differenzierte Durchseuchung?

Ja. Die Erfahrung zeigt, dass es sehr schwierig oder unmöglich ist, die Risikogruppen zu schützen, gerade, wenn man hohe Fallzahlen hat. Auch weil man ansteckend ist, bevor man Symptome hat. Und das Problem der Immunität ist immer noch da.

Das Gespräch führten Adam Fehr und Stephan Rathgeb.

10vor10, 06.08.2020, 21:50 Uhr ; 

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