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Mehr Corona-Fälle, aber leere Spitalbetten
Aus 10 vor 10 vom 27.08.2020.
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Coronavirus Warum die Fallzahlen steigen – aber die Spitalbetten leer bleiben

Aktuelle Daten geben Hinweise, wie sich die Situation verändert hat und wer sich infiziert. Drei Erklärungen in Grafiken.

Die Zahlen der gemeldeten Neuinfektionen steigen in vielen Kantonen, doch die Spitalbetten füllen sich nur spärlich mit Covid-19-Fällen. Auch Verstorbene werden kaum verzeichnet. Was hat sich verändert?

SRF hat teils neue Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) ausgewertet und mit Expertinnen gesprochen und drei plausible Erklärungen für das Phänomen identifiziert:

  • Durch mehr und breitere Tests werden mehr «unsichtbare» Fälle erkannt.
  • Jüngere Altersgruppen infizieren sich seit Juni überproportional.
  • Ältere Altersgruppen können sich besser schützen.

1. Mehr Tests ergeben ein besseres Bild

Ein funktionierendes Testsystem ist die Voraussetzung, um die aktuelle Lage der Pandemie korrekt abzubilden. Inzwischen ist bekannt, dass ein beträchtlicher Teil der Covid-19-Ansteckungen symptomlos oder mit sehr milden Symptomen verläuft, quasi unsichtbar.

Weil im Frühling 2020 nur eine beschränkte Anzahl Tests zur Verfügung standen und nur Personen mit Symptomen aus dem Kreis von Risikogruppen getestet werden durften, wurde möglicherweise ein Teil der unsichtbaren Fälle ausgeklammert. Doch wie gross ist diese Zahl tatsächlich?

Über die Zeit wurde das Testsystem angepasst: Ab dem 22. April konnten sich alle Personen mit Symptomen testen lassen, und seit dem 25. Juni übernimmt der Bund die Kosten für die Tests. Diese und weitere Systemänderungen haben dazu beigetragen, dass in der Schweiz eine breitere Masse an Personen getestet wird.

Damit flossen auch vermehrt Fälle mit symptomlosen oder milden Verläufen in die Statistiken. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Zahl der Neuinfizierten im März und April eigentlich höher war. Darum sind die Zahlen vom Frühling nur beschränkt mit den aktuellen Zahlen vergleichbar.

In diese Richtung weist auch die sogenannte Testpositivitätsrate, der Anteil der positiven Tests an allen durchgeführten Tests. Solange sich dieser unter fünf Prozent befindet, so die Empfehlungen der WHO, habe man ein verlässliches Bild der Ausbreitung. Während der ersten Welle im März und April 2020 war die Positivitätsrate um ein Vielfaches höher – und die Dunkelziffer dementsprechend grösser.

Für die Epidemiologin Dr. Emma Hodcroft an der Universität Basel klingt diese Erklärung plausibel: «Bestimmt wurden am Anfang asymptomatische Ansteckungen weniger entdeckt. Deshalb sind 300 tägliche Fälle heute wohl näher an der Realität als 300 Fälle im Frühling, als die Neuinfektionen wohl ein Vielfaches höher waren.»

Hodcroft betont aber, dass die Dunkelziffer im Frühling für die Schweiz wohl kleiner ausfalle als in stärker betroffenen Regionen wie Italien oder Spanien. Dies würden Untersuchungen zur sogenannten Seropositivität zeigen, welche eine breite Bevölkerungsgruppe nach Antikörpern untersuchten. Genau werde man die Dunkelziffer aber wohl nie bestimmen können.

2. Junge infizierten sich überproportional oft

Es zeigt sich derzeit in vielen Ländern: Die jüngeren Generationen, besonders die 20- bis 29-Jährigen, sind aktuell am stärksten von den steigenden Fallzahlen betroffen. Ein Indiz dafür sind neue Zahlen des BAG, welche die Tests ab Mitte Mai nach Altersgruppen aufschlüsseln.

Gemäss diesen Daten steigt der Anteil der positiven Tests seit Mitte Juni kontinuierlich an – und dies, obwohl gerade bei den jungen Altersgruppen gleichzeitig immer mehr getestet wurde. Laut Epidemiologin Hodcroft ein klarer Hinweis dafür, dass es sich nicht bloss um eine Änderung im Testing-Regime handelt, sondern um einen realen Anstieg der Infektionen bei den Jungen.

Die Unter-30-Jährigen machen derzeit rund die Hälfte aller gemeldeten Neuinfektionen aus – in der Schweiz sind es in gewissen Kantonen gar bis zu 70 Prozent; dabei machen die Jungen nur rund ein Drittel der Bevölkerung aus.

Das hat Folgen. Weil junge Menschen ohne Vorerkrankungen erwiesenermassen mildere Verläufe von Covid-19 erfahren, landen auch weniger in den Spitälern. Da sich die Testvoraussetzungen zwischen März und Juni aber stark verändert haben, zeigen die Hospitalisierungen ein noch klareres Bild der Lage: Keine schweren Verläufe bedeutet keine neuen Spitaleintritte.

Epidemiologin Hodcroft sagt dazu: «Die Zahlen zu Spitaleintritten sind trügerisch, weil die meisten Menschen erst zwei bis drei Wochen nach einer Ansteckung im Spital landen. Wenn die Hospitalisierungen steigen, ist es also fast schon zu spät, um gut reagieren zu können.»

Dass zurzeit mehrheitlich Junge vom Virus betroffen seien, würde uns mehr Zeit geben, uns für den Herbst vorzubereiten, sagt Hodcroft: «Mit dem Herbst werden wir wieder mehr Zeit in Innenräumen verbringen, es wird weniger gelüftet und mehr geheizt, viele gehen zurück ins Büro – all das erhöht das Risiko für Ansteckungen.»

3. Alte Menschen stecken sich weniger an

Während die Ansteckungen der mittleren Altersgruppe zwischen 30 und 59 Jahren seit Beginn der Pandemie konstant bleiben, gab es eine klare Verschiebung bei den Jungen und Alten. Dies zeigt ein Vergleich der Fallzahlen mit dem jeweiligen Anteil in der Bevölkerung.

Die Über-60-Jährigen machen einen Anteil von 25 Prozent in der Bevölkerung aus. Der Anteil der Coronafälle lag bei dieser Altersgruppe im Vergleich zu anderen Altersgruppen im Frühling zeitweise bei knapp 40 Prozent – rund 15 Prozentpunkte mehr als ihr Anteil in der Bevölkerung. Damit waren die Über-60-Jährigen überproportional betroffen. Inzwischen hat sich die Lage deutlich verändert. Die ältere Generation steckte sich in den letzten Monaten bis zu 15 Prozentpunkte weniger an. Dafür ist nun die junge Generation überproportional betroffen.

Emma Hodcroft schätzt, dass besonders die älteren Bevölkerungsgruppen ihr Verhalten angepasst haben. Das würde sie im Moment ein wenig schützen – und die Spitalbetten leer halten. «Aber je mehr Fälle es gibt, desto weniger können sie sich schützen, und desto mehr steigt das Risiko, sich anzustecken.»

Für Hodcroft befindet sich die Schweiz derzeit noch nicht in einer schlechten Situation. «Aber die steigenden Fallzahlen erhöhen das Risiko für gravierendere Ausbrüche. Deshalb braucht es jetzt einen klaren Aktionsplan, mit fixen Grenzwerten und konkreten Schritten, die umgesetzt werden, wenn diese Grenzwerte überschritten werden.»

Gemäss Hodcroft sei es wohl ein Zusammenspiel der drei Erklärungen, die einen Effekt auf die aktuelle Situation hätten. Klar ist: Die Schweiz ist nicht alleine mit der Frage. Das Phänomen wird gerade auch in Grossbritannien oder Deutschland beobachtet – mit ähnlichen Erklärungen.

Quellen und Methoden

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Für die Auswertungen in diesem Artikel wurden Daten des BAG verwendet. Bei den Fallzahlen, Verstorbenen und Spitaleintritten wurde jeweils der 7-Tage-Schnitt berechnet. Mit Spitaleintritten sind die neu gemeldeten Hospitalisierungen im Situationsbericht des BAG gemeint. Dafür wurden alle Berichte des BAG seit Ende März analysiert. Als Spitaleintrittsdatum wurde das Meldedatum verwendet, der effektive Spitaleintritt kann auch früher erfolgt sein. Daten zu den Tests nach Altersgruppen wurden vom BAG zur Verfügung gestellt und sind erst ab Mitte Mai verfügbar. Die Zahlen zur Bevölkerung stammen vom Bundesamt für Statistik (BFS).

10vor10, 27.08.2020, 21:50 Uhr

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