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CS-Sorgenbarometer Die Bürgerinnen wollen ihren gutschweizerischen Kompromiss zurück

Das Vertrauen der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in Parteien, National- und Ständeräte ist in diesem Jahr regelrecht eingebrochen. Nur Kirchen und die EU kommen noch schlechter weg als Parteien und NGOs.

46 Prozent der stimmberechtigten Schweizerinnen und Schweizer finden zudem, der Bundesrat und die Bundesverwaltung versagen oft in entscheidenden Dingen.

Was ist geschehen? Weshalb finden 2018 und 2019 immer mehr Stimmberechtigte, dass die Politik die Dinge nicht mehr so recht im Griff habe?

Die rund 2500 befragten Stimmberechtigten geben die Antwort gleich selber: Der Bundesrat wird als führungsschwach wahrgenommen, das Parlament als zu wenig kompromissfähig.

Führungsschwäche in der Europapolitik

Die wahrgenommene Führungsschwäche des Bundesrates darf wohl hauptsächlich auf die Europapolitik und da auf das Rahmenabkommen zurückgeführt werden. Der Bundesrat hat noch immer keine klare Richtung angegeben, ausser, dass man warten wolle.

Nur: Diese Führungsschwäche kann auch als Taktieren interpretiert werden, getrieben von der Erwartung, die EU komme der Schweiz noch entgegen. Und die Abstimmung zum Rahmenabkommen sei so noch (irgendwann) zu gewinnen. Sollte das dereinst zutreffen, hätte der Bundesrat sein Ziel verwirklicht – da dürfte er auch schlechte Umfrageergebnisse wegstecken.

Verloren gegangene Kompromissfähigkeit

Eine viel grössere Wunde im Schweizer Politikverständnis hinterlässt das Verdikt, das Parlament sei zu wenig kompromissfähig. Damit trauen 68 Prozent der Stimmberechtigten dem politischen System nicht mehr so richtig zu, was es bisher ausmachte: die typisch schweizerische Konsensfähigkeit. Miteinander Reden – über die Parteigrenzen hinweg – und gemeinsam Lösungen finden.

Verborgen von der Öffentlichkeit beraten die parlamentarischen Kommissionen die politischen Geschäfte oft über Monate und finden Kompromisse. Man findet sich im Kleinen, zum Wohle des Ganzen.

Aber genau das ist in wichtigen Dossiers eben nicht mehr geschehen. AHV, Krankenkasse, Migration und Europa: Statt dass Kompromisse mutig angegangen werden, verharrt man mit geschwellter Brust auf den eigenen Maximalforderungen.

Konsens als Erfolgsrezept

Die Befragten strafen dieses Verhalten ab: 77 Prozent kommen zum Schluss, die Politik schaffe zu wenig tragfähige Lösungen, und das gefährde die Identität der Schweiz.

Die Stimmberechtigten haben natürlich recht. Lösungen zu finden über die Partei-, Sprach- und Einkommensgrenzen hinweg, das ist ein zentraler Wert des Schweizer Politikbetriebes. Die Politik des Konsenses ist ein wesentlicher Teil des sozialen und wirtschaftlichen Erfolges dieses kleinen Landes inmitten von Staaten, in denen alle Jahre mal die eine Partei die andere wegfegt und Versprechen ausposaunt werden, die nie jemand halten kann.

Schweizer Politik ist kein Spiel um Sieg und Niederlage, sondern um Ausgleich und Kompromiss.

Vielleicht widmen sich die neuen National- und Ständerätinnen in Bern neben den mittleren und kleineren Problemen im Land wieder einmal einem grossen: Wie schaffen wir es, wieder gutschweizerische Kompromisse zu finden?

Michael Perricone

Chef vom Dienst, SRF Newsroom

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Michael Perricone ist Chef vom Dienst in SRF Newsroom und gibt am Medienausbildungszentrum MAZ einen Kurs für Journalistinnen und Journalisten zum Umgang mit PR. Er hat 2011 als Leiter Ressort Politik bei der «Blick»-Gruppe gearbeitet.

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