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Zu sehen sind Kursbücher auf einer Waage.
Legende: Sämtliche Fahrpläne in drei dicken Bänden: Die zweitletzte Ausgabe des Kursbuchs. Burri

Das letzte Kursbuch Früher ein Bestseller, bald Nostalgie

Das Kursbuch gehörte in die Schweizer Bücherregale, fast wie literarische Werke. Seite für Seite, Zeile für Zeile eng beschrieben mit Abfahrts- und Anfkunftszeiten. Inzwischen haben Internet und Apps das Kursbuch abgelöst. Am Samstag erscheint die letzte Ausgabe. Ein Nachruf.

Wenn einer eine Reise tut, so kann er ziemlich ins Blättern kommen. Und sich in den Zahlenreihen auf den dünnen Kursbuchseiten verlieren. Wie Hans Kaspar Schiesser der im aktuellen Kursbuch eine zufällige Seite aufschlägt: «Diese unglaubliche Reihe von Zahlen, hier: Dornach-Basel. Ist eigentlich wahnsinnig, was ich da für Möglichkeiten habe!»

Fast unbegrenzte Möglichkeiten sind es, im Vergleich zum ersten offiziellen Kursbuch von 1905. Schiesser war einst beim Verkehrsclub VCS und beim Verband öffentlicher Verkehr aktiv, und hat eine Ausstellung zum Kursbuch kuratiert. Er sieht im 6000-seitigen Werk: «ein Relikt aus der schönen Zeit, in der Wissen haptisch war. Das spürt man an diesen Bänden, die fast zweieinhalb Kilogramm schwer sind.»

In der Blütezeit wurden über 300‘000 Exemplare des Buches verkauft. Es bot Orientierungshilfe, war Reiselektüre und weckte Fernweh bei den Zuhausegebliebenen.

Nun wird es zum letzten Mal gedruckt. Ein Verlust, so Hans Kaspar Schiesser: «Manchmal habe ich ein bisschen die Befürchtung, dass wir damit ein Stück Kultur verlieren.»

Zum Kulturgut erhoben

Kultur, weil die Verkehrsverbindungen seit jeher gleich dargestellt werden – links die Ortschaften, von oben nach unten die Züge. Und seit 35 Jahren in derselben Schrift, 1.9 Millimeter hoch.

Und weil seit den 1980er-Jahren jeweils eine Künstlerin oder ein Künstler den Einband gestaltet. Zum Abschluss zieren comicartige Monster den Einband – das Kursbuch konfrontiert mit Kunst.

Zum Kulturgut erhoben hat das Buch auch Franz Hohler. Konkrete Poesie sei es, so der Kabarettist, und rezitiert «Gedicht Nummer 761»: «Niederweningen, Niederweningen Dorf. Schöfflisdorf, Oberweningen, Steinmaur, Dielsdorf, Niederhasli, Oberglatt.»

Denn, was folgt auf der nächsten Seite für ein Gedicht? Oberglatt-Niederweningen!
Autor: Franz Hohler

Hohler interpretiert: es ziehe den Dichter hinaus in die grosse weite Welt. Bloss – nicht für lange: «Denn, was folgt auf der nächsten Seite für ein Gedicht? Oberglatt-Niederweningen!»

Eine sinnlose Flucht, resümiert Hohler. Er lobt das Kursbuch auf der Bühne als Werk – nicht etwa von Technokraten, sondern von Romantikern. Ein Buch voller Zahlen, das Gefühle transportiert. Müsste Hans Kaspar Schiesser eine Liste mit den zehn wichtigsten Schweizer Büchern erstellen, wäre «Emile von Rousseau dabei, Heidi von Johanna Spyri, Homo Faber von Frisch – und das Kursbuch dabei.»

Früher und heute: Das Kursbuch der SBB

Heute plant der Algorithmus die Reise

Heute hat die Fahrplan-App ihren Platz in der Liste der zehn beliebtesten Handy-Programme. In der Gegenwart, im digitalen Zeitalter sagt uns die App, wann der Zug fährt.

Soll ich schnell oder langsam umsteigen? Soll ich die schöne oder die praktische Strecke nehmen? Diese Entscheide werden irrelevant. Denn heute plant der Algorithmus unsere Reise. Der Mensch verlässt sich darauf. Beim Fahrplan, aber auch beim Navigationsgerät im Auto, bei der Erinnerung an Termine – der Computer hilft uns und bevormundet uns.

Vielleicht bin ich da hoffnungslos veraltet.
Autor: Hans Kaspar Schiesser

«Ich denke, es könnte in der Summe tatsächlich unsere Art zu denken und zu leben beeinflussen», bedauert Hans Kaspar Schiesser. «Aber vielleicht bin ich da hoffnungslos veraltet.»

Für hoffnungslos Veraltete und für Romantiker hier noch ein Tipp: die Kursbuchseiten gibt es weiterhin im traditionellen Design – hier im Internet abrufbar. Da könnte man also alle 6000 Seiten runterladen, ausdrucken und mitschleppen. Nur die Kunst auf der Titelseite, die muss der geneigte Kursbuchbenutzer künftig selber kreieren.

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