«Ich freue mich, dass das Land regelrecht aufgeblüht ist», verkündete Simonetta Sommaruga am 27. Mai. Fünf Tage später versammelten sich die Parlamentarier in ihrem Exil an der Bernexpo. In den unheimlichen Weiten der Messehallen verhallten die Worte der Bundespräsidentin.
Denn noch immer wandelte der Geist von Corona durch die Gänge. «Als Argument für und gegen alles» sollte er auch an der Sommersession präsent sein, wie Bundeshausredaktor Andy Müller prophezeite.
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Bild 1 von 2. «Desinfizieren für die Demokratie», wie es der «Blick» nannte…. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 2. …und die Suche nach Volksvertretern, die sich in den Untiefen der Ausstellungshallen verloren: Die Sommersession 2020 bot besondere Bilder. Bildquelle: Keystone.
Zwar befassten sich die Räte diesmal vornehmlich mit der Welt, in der Corona noch ein Bier war. Wer glaubte, dadurch leichtere Kost serviert zu bekommen, wurde aber bitter enttäuscht. Die traurige Einsicht: Früher war auch nicht alles besser. Zumal sich alte und neue Normalität zu einem toxischen Krisencocktail vermischten.
Die Krisenbewältiger
Klimakrise, Wirtschaftskrise, Pflegekrise, Medienkrise, Flüchtlingskrise und schliesslich die Mohrenkopfkrise, die diverse Räte zu medialen Stellungnahmen veranlasste:
Die Sommersession entpuppte sich als Familientreffen der Krisen. Und wie der betrunkene Onkel schaltete sich die Coronakrise in sämtliche Debatten ein. Schrill, laut und nicht zu übersehen. Und manchmal stand «Onkel Corona» einfach nur im Weg:
Zum eigentlichen Krisengipfel wurde die Marathondebatte zum CO2-Gesetz. Allein, bis sie überhaupt startete (und der Rückweisungsantrag der SVP abgelehnt worden war) fiel das Wort «Krise» über 50 Mal. Am Ende beschloss der Nationalrat eine Flugticketabgabe und eine Erhöhung des Benzinpreises, was Weltenbummler und Autonarren in eine Sinnkrise stürzte.
Wer Trost, oder zumindest Antworten im «Echo der Zeit» suchte, blieb verängstigt zurück: «Als Krise haben die alten Mediziner den Höhepunkt des Fiebers vor der Genesung oder dem Tod des Patienten bezeichnet», erklärte der Philosoph Thomas Macho. Das mag resignierend klingen. Doch es schwingt Hoffnung mit: Krisen können überstanden werden.
Und so krempelten die Parlamentarier die Ärmel hoch:
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Bild 1 von 10. Die Konzernverantwortungsinitiative will Unternehmen mit Sitz in der Schweiz zur Verantwortung ziehen, wenn sie im Ausland Menschenrechte missachten oder die Umwelt verwüsten. Sie kommt auf Druck der Konzernlobby ohne abgemilderten Gegenvorschlag vors Volk. «Das könnte sich als Bumerang erweisen», urteilt SRF-Wirtschaftsredaktorin Maren Peters. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 10. Das Parlament lehnt die Burka-Initiative ab. Allerdings: Neben der SVP fordert auch die Mitte-Fraktion, dass im öffentlichen Raum das Gesicht gezeigt werden muss. Einer Maskenpflicht steht die Initiative im übrigen nicht im Weg: Die «Verhüllung» aus gesundheitlichen Gründen bleibt auch bei einer Annahme der Initiative erlaubt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 10. Der Swisscoy-Einsatz im Kosovo wird verlängert. «Als neutrales Land hat die Schweiz im Ausland nichts zu suchen!», polterte SVP-Nationalrat Erich Hess. Von seiner Partei gabs ein Veto. Die Linke dagegen sprach sich für einmal für eine Armeevorlage aus. Verkehrte Welten. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 10. Die «Ehe für alle», also auch für homosexuelle Paare, soll möglich werden: «Die Gesellschaft ist offener und liberaler geworden», urteilte Bundeshausredaktorin Nathalie Christen. Den Beweis kann sie womöglich an der Urne erbringen – wenn die EDU tatsächlich das Referendum ergreift. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 10. Maximal 12 Rappen mehr pro Liter Benzin und bis zu 120 Franken mehr pro Flugticket – je nach Distanz und Klasse: Autofahren und Fliegen werden teurer. Gut die Hälfte der Einnahmen aus der Flugticketabgabe soll aber an die Bevölkerung zurückfliessen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 10. Auch in der Schweiz applaudierten die Menschen auf dem Höhepunkt der Coronakrise für das Pflegepersonal. «Dass er sich davon hat beeindrucken lassen, kann man dem Ständerat definitiv nicht vorwerfen», analysierte Bundeshausredaktor Curdin Vincenz. Die kleine Kammer schwächte den Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative weiter ab. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 10. Eine App, sie alle zu finden und ewig zu binden? Oder, wie es SVP-Nationalrat Thomas de Courten ausdrückt: «Das tönt nach George Orwell und ‹1984›»? Um Datenschutzbedenken auszuräumen, bekommt die Corona-Warn-App des Bundes eine gesetzliche Grundlage. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 10. In Verwaltungsräten sollen künftig beide Geschlechter zu mindestens 30 Prozent vertreten sein, in Geschäftsleitungen zu mindestens 20 Prozent, Mit Betonung auf «sollen»: es handelt sich lediglich um Richtwerte für Unternehmen. Sanktionen sind keine vorgesehen. In einem Bericht soll begründet werden, warum das Ziel nicht erreicht wurde. Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 10. Die Linke warnte vor einem «Gesinnungsstrafrecht» – am Ende wurde das Strafrecht zur Bekämpfung des Terrors trotzdem deutlich verschärft. Zudem wird Hausarrest für Gefährder schon ab 15 Jahren möglich – die mutmasslich EMRK-widrige Präventivhaft kommt aber nicht. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 10. Wieder und wieder hatte die Armee gewarnt, ihr Bestand sei gefährdet. Das Problem: die «Abschleicher» in den Zivildienst. Bundesrat und Parlament erhörten die Warnrufe – bis in der Schlussabstimmung im Nationalrat eine Mitte-Links-Allianz intervenierte. Die Session endete mit einer Ohrfeige für bürgerliche Sicherheitspolitiker. Bildquelle: Keystone.
Mancher Entscheid leitete konservative Rückzugsgefechte ein. SVP-Mann Christian Imark quittierte die Klimaoffensive in Krisenzeiten mit einem Zitat von Erich Honecker:
Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.
Auch Beat Rieder wartete mit ungewohnten Tönen auf. «Diese Vorlage treibt mich als Erzkonservativen nicht an meine Grenzen», witzelte der Walliser Christdemokrat zum vereinfachten Wechsel des Geschlechts für Transmenschen. Und schob mit finsterer Miene nach: «Die ‹Ehe für alle› wird dann aber zu reden geben.»
Nicht nur bei der Homo-Ehe zeigte sich, dass seit dem Grünrutsch vom letzten Herbst ein neuer Wind durch den Nationalrat weht. So soll nun auch die Abgabe von Cannabis zu Studienzwecken möglich werden.
SVP-Nationalrätin Therese Schläpfer forderte die versammelte Linke auf, Farbe zu bekennen: «Seid wenigstens ehrlich: Ihr wollt den Cannabis-Konsum legalisieren!» Beredtes Schweigen brandete durch den linken Flügel der Messehalle.
Schliesslich verabschiedeten sich die Räte in die Sommerpause. «Machen Sie Ferien in der Schweiz!:»: Ueli Maurers flammender Appell aus der «Corona-Session» vom Mai schien nach drei Wochen Krisenbewältigung in trister Ambiance weit weg.
«Unpersönlich, keine Fenster, künstliches Licht, am Abend ist einem 'halb schturm'», schloss ein abgekämpfter Thomas Matter (SVP). Er hoffe, es gebe nach den illegalen Demos keine zweite Welle, «damit wir nicht noch einmal in diesen Betonbunker müssen.»