Aufgewühlt blickt Katharina Vogel-Maurer auf ihre Jugendzeit zurück. Es war 1974 auf dem Breiteloohof in Suhr. Eines Tages sei ihr Vater verzweifelt dagestanden, weil das Vieh kaum mehr frass. Die Tiere waren abgemagert und hatten Schmerzen. «Kalberte eine Kuh, starb das Kalb, wenn es Muttermilch getrunken hatte», erzählt die 67-Jährige.
Dutzendfach muss Fritz Maurer notschlachten. Der Pächter ist überzeugt, dass die Ursache in wenigen hundert Metern Luftlinie entfernt liegt: Die KVA Buchs, die 1973 ihren Betrieb aufgenommen hatte und als eine der modernsten ihrer Art galt.
«Immer wenn der Biswind bläst, kommt es übers Feld von der Kehrichtverbrennungsanlage her. Als es schneite, wurde der Schnee schwarz», sagte er 1977 einem Fernsehreporter. «Wir haben es untersucht und stellten fest, dass Blei, Zink, Quecksilber und anderes enthalten war.»
Sanktionen, Ächtung, Ruin
Das Gemüse aus dem eigenen Garten verursacht Magenschmerzen. Die Milch wird ungeniessbar. Fritz Maurer erklärt, er könne sie nicht mehr trinken und auch nicht mehr verantworten, sie abzugeben. Die Milchgenossenschaft Suhr nimmt ihm keine mehr ab. Vor der Kamera entleeren Maurers ihre Kannen ins Gülleloch.
Wir wurden wie Aussätzige behandelt
Die kantonale Kontrollstelle wirft ihnen mangelnde Hygiene vor. Im Dorf hätten die Leute schlecht über Biolandbau geredet, weiss Sohn Ruedi, pensionierter Landwirt: «Wir wurden wie Aussätzige behandelt.»
Aufgrund von Fritz Maurers Hinweisen lässt der Bund Schadstoffe aus der KVA Buchs untersuchen. Experten finden giftiges Dioxin, halten die Belastung jedoch für unbedenklich. Die Gefahren von Dioxin sind bekannt. Um die Öffentlichkeit nicht aufzuschrecken, werden die Betroffenen nie informiert. Die damalige KVA-Betriebsgesellschaft schreibt die Emissionen Dritten zu.
«Schweigegeld» ohne Schuldeingeständnis
Finanziell ruiniert und sozial geächtet verlassen die Maurers 1978 den Breiteloohof, den sie zu einem Biomusterbetrieb gemacht haben. Der Vater wird mit 57 Jahren arbeitslos. Später kommt er als Magaziner in einer Mosterei unter. Jahre später erhalten Fritz Maurer und seine Frau 250'000 Franken vom KVA-Zweckverband. Für Elisabeth ist es ein «Schweigegeld, damit die Sache erledigt war».
Diese Abgeltung verdankten sie dem Zürcher Architekten Fritz Stuber. Berührt von ihrem Schicksal hatte der heute 82-Jährige auf eigene Faust ermittelt und für Wiedergutmachung lobbyiert. Die Aargauer Regierung richtete ein Schiedsgericht ein. Auf politischen Druck stimmte der damals aus über 50 Gemeinden bestehende Zweckverband zu – ohne aber eine Schuld einzugestehen.
Nach einem Bericht im «Tagesanzeiger» zeigte sich der Suhrer Gemeindepräsident Marco Genoni betroffen. Er lud die Geschwister ein, um sich offiziell zu entschuldigen. Ihre Eltern seien «völlig zu Unrecht verfemt und in ihrer Integrität verletzt» worden. Die Dorfgemeinschaft habe den Vater verleumdet, statt ihm beizustehen.
Die Betroffenen wurden völlig zu Unrecht verfemt und in ihrer Integrität verletzt.
Der Brief habe sie «emotional durchgeschüttelt», sagt Elisabeth Maurer. Auf einmal sei der Vater nicht mehr Täter, sondern ein Held, bilanziert sie. Als «unbeschreiblich schön» beschreibt Bruder Ruedi die Geste. Katharina hätte sich gewünscht, «dass es unser Vater noch erlebt hätte».
Beide Eltern sind tot. Ihre Warnungen nahmen die politisch Verantwortlichen aus heutiger Sicht nicht ernst genug. Im Frühling 2022 will der Kanton Aargau rund um die KVA Bodenproben nehmen. Die Messresultate könnten Fritz und Hanni Maurer dereinst definitiv rehabilitieren.