Im Blinnental VS regiert die Natur. Lärchen und Tannen kleben an den steilen und schroffen Hängen links und rechts, unten rauscht ein Bergbach. Dazwischen zeugen kleine und grosse Steine von unzähligen Murgängen. Ausgerechnet in diesem unbändigen Seitental im Goms hat sich der englische Intellektuelle Vincent Donovan vor fast hundert Jahren niedergelassen.
Ein gut betuchter Engländer
Zwei Welten seien damals, als Donovan 1929 nach Reckingen kam, aufeinandergeprallt, erzählt Ilse Carlen. Sie beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte Donovans. Auf der einen Seite die einfache, streng katholische Bergbevölkerung, auf der anderen Seite Donovan, ein hoch gebildeter, kultivierter, gut betuchter Engländer. «Mit seinem Benehmen, seinen Manieren und seiner Melone ist er im Dorf aufgefallen.»
Vincent Donovan zieht es in die Natur. Sein neues Zuhause: eine Höhle unter einem Felsblock im Blinnental, gut eine Stunde Fussweg vom Dorf entfernt. «Das hat die Neugier der Bevölkerung geweckt», sagt Ilse Carlen. Vor allem sonntags hätten viele Einheimische den «Herrn Engländer» besucht. Eine willkommene Abwechslung im harten Alltag der Bergbauern.
Aus Mister Donovan wird Miss Kraig
Zumal Donovan die Besucherinnen und Besucher grosszügig bewirtet: mit Zigaretten, Tee, Weissbrot und Konfitüre. «Weissbrot war ein Luxus, den sich die Bevölkerung nicht leisten konnte.»
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Bild 1 von 4. Trotz unzähliger Murgänge: Nach fast hundert Jahren steht die Höhle des «Herrn Engländer» noch immer. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
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Bild 2 von 4. Umgeben von Steinplatten: Hier hat Vincent Donovan gekocht, geschlafen und gelebt. Wie Donovan die Höhle eingerichtet hat, ist nicht bekannt. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
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Bild 3 von 4. Die Steinmauern sind die Überreste eines Anbaus, den Donovan in Auftrag gab: ein Gästezimmer und einen Zugang via Treppe zur Höhle. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
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Bild 4 von 4. Unter einem anderen Felsblock liess Donovan eine Badewanne einrichten – inklusive Wasserfassung. Eine Sensation für die Dorfbevölkerung. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
Mit seiner Grosszügigkeit habe Donovan die Dorfbevölkerung beeindruckt, aber auch mit seinem Wissen und seinem englischen Humor. «Er hat die Bevölkerung für sich gewonnen und mit ihr Freundschaft geschlossen.» Ilse Carlen ist überzeugt: Nur so war möglich, was danach passierte.
Vincent Donovan verwandelt sich Schritt für Schritt in eine Frau: Miss Franca Kraig. «Die Haare wurden länger, aus dem Hemd wurde eine Bluse, dann aus der Hose ein Jupe und so weiter.»
Miss Kraig sorgt für Aufsehen
Die Bevölkerung habe den Identitätswechsel akzeptiert. «Dass das zu jener Zeit in einem Bergdorf möglich war, erstaunt mich immer wieder», so Carlen.
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Bild 1 von 3. Ilse Carlen ist fasziniert von Vincent Donovan und seiner Verwandlung. Sie recherchiert seit fünfzehn Jahren zum Leben des Engländers. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
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Bild 2 von 3. Die pensionierte Englischlehrerin setzt sich dafür ein, dass diese ungewöhnliche Geschichte nicht vergessen geht. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
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Bild 3 von 3. Einen Koffer mit Büchern, Notizen und Briefen hat Franca Kraig in Reckingen zurückgelassen. Bildquelle: SRF/Sabine Steiner.
Ein Mann, der als Frau in einer Höhle wohnt – diese Geschichte zieht ihre Kreise. Eine Walliser Lokalzeitung schreibt 1932 von einem «rätselhaften Sonderling», einem «Mannweib», das «ein eigenartiges Einsiedlerleben» führt:
«Ein Besuch bei Miss Kraig ergab folgende interessanten Einzelheiten: Die gastfreundliche Miss war glatt rasiert – ein regelrechter Bubikopf geziert mit Haarkämmen. Die Kleidung bis an die Seidenstrümpfe tadellos.»
Franca Kraig habe jegliche Aufmerksamkeit stets gemieden, so Ilse Carlen. «Obwohl die Familie in London die Verwandlung ihres Sohnes akzeptiert und unterstützt hatte, durfte die englische Öffentlichkeit nicht davon erfahren. Das hätte die Familie sozial ruiniert.»
Von der Vorsicht Kraigs zeugt ein Artikel, der 1935 in einem Zürcher Wochenmagazin erschien. Von einem «menschenscheuen Sonderling» ist dort die Rede. Obwohl die Einheimischen davon abgeraten hätten, sei es dem Reporter «mit viel List» gelungen, «von Miss Franca einige Aufnahmen zu machen».
Ob Franca Kraig von den Zeitungsartikeln je erfahren hat, ist nicht bekannt. «Auch wenn die Aufnahmen auf fragwürdige Weise entstanden sind – heute sind sie ein Glücksfall», so Ilse Carlen. Denn die Bilder belegen: Diese ungewöhnliche Geschichte im Goms vor fast hundert Jahren ist tatsächlich passiert.