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Der Einsiedler von Reckingen Wie in einer Walliser Höhle aus einem Engländer eine Frau wurde

Es klingt wie eine Geschichte aus Hollywood: Ein englischer Intellektueller sucht vor fast hundert Jahren in einem Walliser Bergdorf sein Glück und verwandelt sich in eine Frau.

Im Blinnental VS regiert die Natur. Lärchen und Tannen kleben an den steilen und schroffen Hängen links und rechts, unten rauscht ein Bergbach. Dazwischen zeugen kleine und grosse Steine von unzähligen Murgängen. Ausgerechnet in diesem unbändigen Seitental im Goms hat sich der englische Intellektuelle Vincent Donovan vor fast hundert Jahren niedergelassen.

Ein gut betuchter Engländer

Zwei Welten seien damals, als Donovan 1929 nach Reckingen kam, aufeinandergeprallt, erzählt Ilse Carlen. Sie beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Geschichte Donovans. Auf der einen Seite die einfache, streng katholische Bergbevölkerung, auf der anderen Seite Donovan, ein hoch gebildeter, kultivierter, gut betuchter Engländer. «Mit seinem Benehmen, seinen Manieren und seiner Melone ist er im Dorf aufgefallen.»

Franca Kraig vor ihrer Höhle
Legende: Vincent Donovan alias Franca Kraig vor ihrer Höhle. Dieses Bild des «Engländers» findet sich in vielen alten Familienalben in Reckingen. ZVG

Vincent Donovan zieht es in die Natur. Sein neues Zuhause: eine Höhle unter einem Felsblock im Blinnental, gut eine Stunde Fussweg vom Dorf entfernt. «Das hat die Neugier der Bevölkerung geweckt», sagt Ilse Carlen. Vor allem sonntags hätten viele Einheimische den «Herrn Engländer» besucht. Eine willkommene Abwechslung im harten Alltag der Bergbauern.

Aus Mister Donovan wird Miss Kraig

Zumal Donovan die Besucherinnen und Besucher grosszügig bewirtet: mit Zigaretten, Tee, Weissbrot und Konfitüre. «Weissbrot war ein Luxus, den sich die Bevölkerung nicht leisten konnte.»

Mit seiner Grosszügigkeit habe Donovan die Dorfbevölkerung beeindruckt, aber auch mit seinem Wissen und seinem englischen Humor. «Er hat die Bevölkerung für sich gewonnen und mit ihr Freundschaft geschlossen.» Ilse Carlen ist überzeugt: Nur so war möglich, was danach passierte.

Vincent Donovan verwandelt sich Schritt für Schritt in eine Frau: Miss Franca Kraig. «Die Haare wurden länger, aus dem Hemd wurde eine Bluse, dann aus der Hose ein Jupe und so weiter.»

Miss Kraig sorgt für Aufsehen

Die Bevölkerung habe den Identitätswechsel akzeptiert. «Dass das zu jener Zeit in einem Bergdorf möglich war, erstaunt mich immer wieder», so Carlen.

Ein Mann, der als Frau in einer Höhle wohnt – diese Geschichte zieht ihre Kreise. Eine Walliser Lokalzeitung schreibt 1932 von einem «rätselhaften Sonderling», einem «Mannweib», das «ein eigenartiges Einsiedlerleben» führt:

«Ein Besuch bei Miss Kraig ergab folgende interessanten Einzelheiten: Die gastfreundliche Miss war glatt rasiert – ein regelrechter Bubikopf geziert mit Haarkämmen. Die Kleidung bis an die Seidenstrümpfe tadellos.»

Franca Kraig habe jegliche Aufmerksamkeit stets gemieden, so Ilse Carlen. «Obwohl die Familie in London die Verwandlung ihres Sohnes akzeptiert und unterstützt hatte, durfte die englische Öffentlichkeit nicht davon erfahren. Das hätte die Familie sozial ruiniert.»

Von der Vorsicht Kraigs zeugt ein Artikel, der 1935 in einem Zürcher Wochenmagazin erschien. Von einem «menschenscheuen Sonderling» ist dort die Rede. Obwohl die Einheimischen davon abgeraten hätten, sei es dem Reporter «mit viel List» gelungen, «von Miss Franca einige Aufnahmen zu machen».

Franca Kraig beim Waschen
Legende: Miss Franca Kraig verbringe die meiste Zeit des Tages mit ihren Hausgeschäften, schrieb die «Zürcher Illustrierte» 1935. Screenshot Zürcher illustrierte/Paul Senn

Ob Franca Kraig von den Zeitungsartikeln je erfahren hat, ist nicht bekannt. «Auch wenn die Aufnahmen auf fragwürdige Weise entstanden sind – heute sind sie ein Glücksfall», so Ilse Carlen. Denn die Bilder belegen: Diese ungewöhnliche Geschichte im Goms vor fast hundert Jahren ist tatsächlich passiert.

Ein bewegtes Leben

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Percy Vincent Donovan kommt 1882 als Sohn eines anglikanischen Priesters und einer adeligen Mutter auf die Welt. Bereits als 16-Jähriger lernt er das Goms kennen: Er verbringt zusammen mit seinem Vater einen Sommer im Binntal.

Donovan studiert in Oxford und veröffentlicht bereits als Student seinen ersten Roman. Ohne Abschluss zieht er nach New York. Dort versucht er sein Glück als Schriftsteller und Bohemien.

1929 kehrt Donovan fast 50-jährig nach Europa zurück. Im Wallis sucht er das einfache Leben. Aus Mister Donovan wird Franca Kraig. Zehn Jahre lebt Kraig im Goms. Wegen der Weltwirtschaftskrise versiegt der Geldfluss aus London, Kraig verarmt.

Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Kraig aus der Schweiz ausgewiesen und stirbt 1940 nach einem Bombenangriff der Deutschen in London.

Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 10.8.2025, 17:30 Uhr;brus

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