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Die DNA verrät das Aussehen Mit neuen Methoden auf Verbrecherjagd

In der Schweiz ist die DNA-Phänotypisierung nicht zugelassen. In den Niederlanden dagegen gehört sie wegen eines brutalen Verbrechens zum Polizeialltag.

Vor zweieinhalb Jahren wurde in Emmen im Kanton Luzern eine junge Frau grausam vergewaltigt. Vom Täter fehlt noch immer jede Spur. Oder genauer gesagt: Die Polizei hat zwar eine DNA-Spur sichergestellt, doch sie darf daraus keine Schlüsse auf das Aussehen und auf die Herkunft des Täters ziehen.

Denn diese Methode, die sogenannte DNA-Phänotypisierung, ist in der Schweiz nicht zugelassen. Ganz anders in den Niederlanden, wo ein brutales Verbrechen dazu beigetragen hatte, dass die DNA-Phänotypisierung heute zum Polizeialltag gehört.

«Ich bin in ein tiefes schwarzes Loch gefallen»

Auf einer Wiese in der niederländischen Provinz Friesland endet 1999 das Leben von Marianne Vaatstra. Die 16-Jährige wird vom Fahrrad gezerrt und vergewaltigt. Der Täter schneidet ihr mit einem Messer die Kehle durch.

Mariannes Vater Bauke Vaatstra ist heute 79 Jahre alt. Er sagt: «Es ist unmöglich zu beschreiben, was ich empfunden habe. Ich bin in ein tiefes schwarzes Loch gefallen.» Zwölfeinhalb Jahre lang wurde der Mörder gesucht.

«Die Leute wollten, dass der Täter ein Ausländer war»

800 Meter vom Tatort entfernt befand sich ein Asylbewerberheim. Der Verdacht fiel zunächst auf einen irakischen und auf einen afghanischen Asylbewerber. Der Kriminalkommissar Jelle Tjalsma war einer der Ermittler. Heute sagt er: «Weil dem Opfer die Kehle durchgeschnitten wurde, sagten die Leute: ‹So tötet man nicht in Westeuropa, das muss ein Ausländer gewesen sein.›»

«Natürlich Blödsinn», findet Tjalsma. «Aber da war die Hölle los.» Die Leute hätten unbedingt gewollt, dass der Täter ein Ausländer sei. «Da entstand natürlich politischer Druck.»

Die Stimmung im Dorf, in dem Marianne ermordet wurde, war aufgeheizt. Als die Behörden ein zweites Asylzentrum ankündigen, kommt es an einer Bürgerveranstaltung zu Tumulten.

«Aussehen ist von Genen bestimmt»

Die Ermittler müssen kühlen Kopf bewahren. Sie finden DNA-Spuren des Täters. Diese stimmen nicht mit der DNA der Asylbewerber überein. Auch in der DNA-Datenbank gibt es keinen Treffer. So nutzen die Ermittler erstmals eine neue Analysetechnik: die DNA-Phänotypisierung.

An ihr wird an der Universität Rotterdam geforscht. Mithilfe der DNA lassen sich Herkunft und Aussehensmerkmale eines Menschen bestimmen. Zu den weltweit führenden Forschern auf dem Gebiet zählt Manfred Kayser.

«Unser Aussehen ist zu einem sehr grossen Teil von unseren Genen bestimmt, nicht alles, aber alles hat einen hohen genetischen Anteil», so Kayser. Wenn man die Genetik verstanden hat, kann man anhand von Spuren, zum Beispiel vom Tatort, etwa das Aussehen eines mutmasslichen Täters vorhersagen.

DNA gab Hinweis auf Westeuropäer

Das Erbgut verrät nicht nur das Geschlecht eines Menschen. Es gibt Hinweise auf die Augenfarbe, die Haarfarbe und das ungefähre Alter. Auch die ungefähre geographische Herkunft lässt sich bestimmen.

Die DNA-Phänotypisierung gibt im Fall Vaatstra einen wichtigen Hinweis. Der Mörder ist höchstwahrscheinlich ein Westeuropäer. Die Ermittler wenden einen Massen-DNA-Test an, mit dem auch entfernte Verwandte des Täters ermittelt werden können. 2012 wird ein Bauer aus der Region verhaftet, er gesteht das Verbrechen.

Ohne die neuen DNA-Methoden wäre unser Fall vielleicht in einer Schublade verschwunden.
Autor: Bauke Vaatstra Vater von Marianne

«Zum Glück wurde der Täter gefasst. Ich hatte Tag und Nacht dafür gekämpft, dass diese neuen DNA-Methoden in den Niederlanden zugelassen wurden», sagt Vaatstra. «Denn ohne sie wäre unser Fall vielleicht in einer Schublade verschwunden.»

Nach anfänglicher Kritik stösst die DNA-Phänotypisierung heute in den Niederlanden auf breite Zustimmung. Mehr als 30 Mal ist sie bereits angewendet worden.

«Das Fernziel ist ein Phantombild»

Kriminalkomissar Tjalsma erzählt von einem konkreten Fall. «Es gab innerhalb von zwei Wochen zwei brutale Vergewaltigungen. Eine Frau sagte: ‹Ich denke, es war ein Marokkaner.› Die andere sagte: ‹Ich denke, es war einer aus der Region Indien.› Und die DNA-Analyse hat gezeigt: Es war einer aus der Region Indien. Das hat zum Täter geführt.»

Allerdings können Aussehensmerkmale erst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bestimmt werden. Es gibt noch viel zu tun für die DNA-Forscher in Rotterdam.

«Wir arbeiten sicherlich an Merkmalen wie Haarausfall und Gesichtsform. Wobei wir hier erst ganz am Anfang stehen. Das Fernziel ist in der Tat ein Phantombild», erklärt Kayser. Ein Phantombild gestützt auf eine DNA-Spur vom Tatort – genauer und zuverlässiger als Augenzeugen.

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