Zum Inhalt springen

Diskussion über Sterblichkeit Ethikerin zur Krise: «Debatte zwischen Jung und Alt zwingend»

In den vergangenen Tagen ist die Zahl der Personen, die im Zusammenhang mit Covid-19 verstorben sind, stark gestiegen. In der zweiten Welle sind mehr Tote zu beklagen als im Frühling. Es sind vor allem Hochbetagte.

Wie die Gesellschaft, die Behörden und die Medien mit dieser Tatsache umgehen und umgehen sollten, erklärt die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle.

Ruth Baumann-Hölzle

Ethikerin

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Ruth Baumann-Hölzle ist Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik . Sie ist Ex­per­tin für Ethik in Or­ga­ni­sa­ti­on und Ge­sell­schaft und hat Theologie studiert.

Der Schwer­punkt ihrer Ar­beit: in­ter­dis­zi­pli­näre, in­ter­pro­fes­si­o­nelle und in­ter­or­ga­ni­sa­ti­o­nale ethi­sche Ent­schei­dungs­fin­dung im Ge­sund­heits- und So­zi­al­we­sen und an ge­sell­schaft­li­chen Schnitt­stel­len.

SRF News: Die Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 sind stark gestiegen. Wie geht denn die Schweiz damit um?

Ruth Baumann-Hölzle: Ich bin betroffen, weil wir kaum einen informierten und respektvollen Dialog in der Bevölkerung miteinander führen.

Wie meinen Sie das?

Es fehlt die Einordnung der Zahlen und der Vergleich mit der Sterblichkeit von anderen Erkrankungen wie nicht Covid-bedingte Lungenentzündungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen mit entsprechenden Altersangaben. Nicht nur in der Berichterstattung, sondern auch im öffentlichen Diskurs.

An wen geht Ihre Kritik? An die Medien oder an die Behörden, die ja diese Zahlen liefern müssten.

Kritik? Es ist eine Forderung, weil die Bevölkerung darauf angewiesen ist, dass sie sich ein informiertes Bild machen kann. Hierzu braucht sie diese verständlich aufbereiteten Vergleichszahlen.

Wie beurteilen Sie die Tonalität der Berichterstattung?

Man kann einen gewissen Alarmismus nicht von der Hand weisen. Dieser wird seit Beginn der Pandemie jeweils auch als «pädagogische Massnahme» bezeichnet. So wurde zum Beispiel am Anfang das Maskentragen auch damit begründet, dass sich die Menschen dadurch an die Gegenwart der Pandemie erinnern sollten. Auch die Taskforce hat vor kurzem ihre Prognose in Bezug auf die Überlastung der Intensivstationen zur pädagogischen Massnahme erklärt, nachdem diese nicht wie vorausgesagt eingetroffen war.

Am Anfang der Pandemie hatte ich manchmal den Eindruck, dass vielen Menschen überhaupt erstmals bewusst wurde, dass wir sterblich sind.

Solche Prognosen sind aber wissenschaftliche Fakteninformationen, und die sind entweder richtig oder falsch. Dies im Gegensatz zu politischen Entscheidungen, die stets eine ethische Güterabwägung und deshalb möglichst plausibel für die Bevölkerung sein müssen.

Und wie reagiert die Bevölkerung?

Zuerst mit grosser Solidarität und mit der Zeit immer stärker gepaart mit Angst. Am Anfang der Pandemie hatte ich manchmal den Eindruck, dass vielen Menschen überhaupt erstmals bewusst wurde, dass wir sterblich sind.

Und diese Abwägung zwischen Sterblichkeit und Massnahmen hat viele Gegensätze kreiert. Gefährlich dabei ist, dass die Gesellschaft dann zunehmend gespalten ist. Statt Fakten werden zunehmend die Menschen in Gute und Böse eingeordnet. Und zwar von beiden Seiten. Der andere wird plötzlich zum Feind der eigenen Meinung. Hier haben die Medien und die Behörden eine wichtige Aufgabe: Wir müssen in einer Form miteinander leben können, die gegensätzliche Meinungen nicht nur toleriert, sondern sich damit auch auseinandersetzt, damit eine Gesellschaft nicht zum Schluss auseinanderfällt.

Die Gespaltenheit zeigt sich auch in der Diskussion, ob man ältere Menschen mit Covid-19 noch auf der Intensivstation retten soll. Da heisst es, dass diese eh nur noch wenige Jahre zu leben haben.

Es gibt Menschen, die so abwertend argumentieren. Dies ist strikte zu unterbinden. Aber wir müssen auch die Tatsache ernst nehmen, dass wir mit 86 eine viel höhere Sterblichkeit haben als mit 25, wenn wir gesund sind. Und die andere Frage ist gleichzeitig: Was wollen die 86-Jährigen selber?Jung und Alt sind gleichermassen an der Debatte zu beteiligen.

Jung und Alt sind gleichermassen an der Debatte zu beteiligen.

Man müsste also die verschiedenen Vertreter einer Gesellschaft in die Debatte einbeziehen?

Ein gesellschaftlicher Dialog – auch in den Medien – hat zwei Grundansprüche zu erfüllen: Erstens sind stets Fachpersonen mit unterschiedlichen Einschätzungen der wissenschaftlichen Fakten einzubeziehen. Und zweitens sind die verschiedenen Moralvorstellungen eines Sachverhaltes miteinander ins Gespräch zu bringen.

Könnte man die Coronakrise auch als Chance sehen, um diesen Dialog zu führen?

Es ist nicht nur eine Chance, es ist eine Notwendigkeit, wenn unsere Gesellschaft nicht völlig zerrüttet, sondern erstarkt aus dieser Krise hervorgehen soll.

Das Gespräch führte Claudia Blangetti.

SRF 4 News, 17.11.2020, 12.30h ; 

Meistgelesene Artikel