«Guten Morgen», begrüsst der Endvierziger die Sozialarbeiterin. Der Mann mit den tätowierten Armen, nennen wir ihn Roger, hat ein paar Unterlagen in der Hand und wirkt etwas gestresst. «Es hat geklappt mit der Mietkaution», sagt er und setzt sich zusammen mit der Sozialarbeiterin an einen Tisch.
Roger ist zu einem Termin zum «Schalter 20» in der Luzerner Innenstadt unweit des Bahnhofs gekommen. Er hat nach langer Suche eine neue Wohnung gefunden und muss jetzt noch einige administrative Angelegenheiten klären. Zudem bespricht er ohnehin regelmässig mit der Sozialarbeiterin seine Finanzen.
Der «Schalter 20» berät Menschen mit einem Suchtproblem und sozialen Schwierigkeiten. Zum Angebot gehört auch, dass die Sozialarbeitenden auf Wunsch das Geld der Klientinnen und Klienten verwalten. Dieses kann aus einem regulären Job, von einer IV-Rente oder auch aus der Sozialhilfe stammen.
Der «Schalter 20» ist ein Nischenangebot, gratis und freiwillig: Bedürftige können sich helfen lassen, wenn sie wollen, es aber auch wieder sein lassen, wenn sie nicht mehr wollen. Getragen wird dieses niederschwellige Angebot nicht vom Staat, sondern von der Kirche beziehungsweise vom «Verein kirchliche Gassenarbeit». «Ohne die Kirchensteuern könnten wir unsere Arbeit nicht mehr machen», sagt Betriebsleiterin Natalie Gloor. «Das wäre ein Problem». Ihre Klienten müssten sich dann anderweitig Hilfe organisieren, was dann jemand anders, wahrscheinlich der Staat, zahlen müsste.
Obwohl das Geld von den Landeskirchen kommt: Wer beim «Schalter 20» arbeitet, muss nicht gläubig und in keiner Kirche sein. Dasselbe gilt für jene, die Hilfe suchen. Auch geht es bei der Arbeit im «Schalter 20» in keiner Weise um die Vermittlung von religiösem Gedankengut oder darum, die Menschen mit Suchtproblemen auf einen wie auch immer gearteten «rechten Weg» zu führen. Ziel ist vielmehr die sogenannte Schadensminderung, also den Menschen mit ihren Problemen ein möglichst würdiges Leben zu ermöglichen.
Ohne die Kirchensteuern könnten wir unsere Arbeit nicht mehr machen.
Die Schweizer Landeskirchen geben einen bedeutenden Teil ihrer Steuereinnahmen für solche Angebote aus. Wieviel genau variiert von Kanton zu Kanton, von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde. Im Kanton Luzern, wo der «Schalter 20» betrieben wird, gibt die mitgliederstärkste Landeskirche, die römisch-katholische, an, dass 41 Prozent der Kirchensteuern, was etwa 32 Millionen Franken entspricht, in den Bereich «Seelsorge und Soziales» flössen. Darunter fallen neben Angeboten wie jene des «Vereins kirchliche Gassenarbeit» allerdings auch die Ausgaben für Priester und Seelsorgerinnen in den Pfarreien.
Für nicht direkt kirchliche Sozialarbeit wende man etwa zehn Prozent der Kirchensteuereinahmen auf, schätzt ein Sprecher der Kantonalkirche. Der Übergang zwischen Seelsorge und Sozialarbeit sei aber fliessend. Jedenfalls, so argumentieren die Kirchenvertreterinnen und -vertreter oft, arbeite die Kirche im Sozialbereich oft günstiger als der Staat, weil sie mehr auf Freiwilligenarbeit zurückgreifen könne.
Dass mit den Kirchensteuergeldern viel für die Allgemeinheit getan werde, ist das zentrale Argument, warum auch Unternehmen Kirchensteuern zahlen sollen. Tatsächlich sind Firmen, also juristische Personen, in 20 Kantonen dazu verpflichtet. In Zürich kommen so jährlich 140 Millionen Franken zusammen. «Das wirft schon Fragen auf», sagt der junge Luzerner Treuhänder David Häsler. Im Kanton Aargau, wo er früher tätig war, gibt es diese Steuer für Firmen nicht. «Bin ich mit der Kirche nicht oder nicht mehr einverstanden, kann ich als Bürger austreten und muss auch keine Kirchensteuern mehr zahlen. Als Firma kann ich das nicht.»
Kein Wunder kommt die Kirchensteuer für Firmen immer wieder auf die politische Tagesordnung. Schon mehrfach sind aber Versuche, sie abzuschaffen, gescheitert, zuletzt im September an der Landsgemeinde im Kanton Glarus. Schon vor sieben Jahren scheiterten Volksinitiativen in den Kantonen Zürich und Graubünden – wuchtig, mit jeweils über 70 Prozent Nein-Stimmen.
In allen drei Fällen kam die Initiative für die Abschaffung von den Jungfreisinnigen. Sie waren es auch, die besonders sensibel auf das Engagement der Kirche gegen die Konzernverantwortungsinitiative vor einem knappen Jahr reagierten. Dass im Herbst 2020 von Kirchtürmen orange Fahnen für das Volksbegehren flatterten, störte konservative Kirchenmitglieder genauso wie Bürgerliche und Wirtschaftsvertreter. Der Präsident der Jungfreisinnigen, Matthias Müller, stellte via online-Portal nau.ch sogar die Forderung auf, man müsse die Kirchensteuer ganz abschaffen. Das müsse aber heissen, dass es kein Geld mehr gebe für die Kirchen: «Diejenigen, die die Kirche trotzdem finanziell unterstützen wollen, können dies dann machen.»
Mehrheitsfähig dürfte diese Forderung bis auf weiteres zwar nicht sein, aber der Exodus aus den Landeskirchen und damit die Erosion der Steuereinnahmen hat sich in den vergangenen Jahren weiter beschleunigt (siehe Grafik). Die Katholiken in Luzern begegnen diesen Austritten mit eine Informationskampagne, die zeigen soll, wie die Kirche die Erträge aus den Kirchensteuern sinnvoll einsetzt. Die katholischen Kirchen im Aargau und im Kanton St. Gallen tun es den Luzernern gleich.
Auch David Häsler, der junge Luzerner Treuhänder, ist aus der Kirche ausgetreten. Der Steuerexperte rechnet stattdessen jedes Jahr aus, was er an Kirchensteuern zahlen müsste und spendet den Betrag dann für wohltätige Zwecke. «So kann selber bestimmen, wohin dieses Geld genau gehen soll», sagt er.
Roger, der 48-jährige Klient vom «Schalter 20», ist zwar seit vielen Jahren auch nicht mehr Mitglied der Kirche, aber er hat unterdessen seine Meinung geändert: «Ich überlege mir wirklich, wieder in die Kirche einzutreten. Weil sie Wichtiges unterstützt mit dem Geld wie eben den «Schalter 20».