SRF News: Wie würde sich der Richterberuf mit der Annahme der Durchsetzungsinitiative (DI) verändern?
Herr Raselli: Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch vieles unklar. Stellte man nur auf den Text der Initiative ab, hätte deren Annahme sicher folgende Konsequenzen: Zum einen könnten Richter und Staatsanwälte die Verhältnismässigkeit einer Landesverweisung im konkreten Einzelfall nicht prüfen. Zum anderen wäre die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Frage gestellt: Nach einer strafrechtlichen Verurteilung müsste der Kanton die Landesverweisung automatisch vollziehen. Sie könnte nur aufgeschoben werden, wenn zwingende Gründe einer Ausweisung entgegenstünden. Etwa wenn dem Verurteilten in seinem Herkunftsland Folter oder grausame Behandlung drohten. In solch einem Fall könnte der Betroffene um einen vorläufigen Aufschub der Ausweisung ersuchen. Würde dieser abgelehnt, könnte der Entscheid zwar an ein kantonales Gericht weitergezogen werden, dessen Entscheid aber nicht an das Bundesgericht. Die Ausschaltung des Bundesgerichtes hätte zur Folge, dass die Rechtsprechung von Kanton zu Kanton erheblich variieren könnte.
Würde das Bundesgericht demnach jede Beschwerde von ausschaffungsbedrohten Personen abweisen?
Stellte das Bundesgericht nur auf den Text der Initiative ab, der eine automatische Ausweisung und, abgesehen vom erwähnten Fall, auch kein Rechtsmittel vorsieht, würde es sich mit solchen Fällen nicht mehr befassen. Den Betroffenen bliebe noch die Möglichkeit, sich beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu beschweren. Völkerrechtliche Verträge wären dann aus Schweizer Sicht Makulatur. Was das für künftige Vertragspartner der Schweiz bedeutete, kann man sich leicht vergegenwärtigen.
Ich halte es allerdings für wahrscheinlich – und hoffe es –, dass das Bundesgericht, eingedenk der fundamentalen Prinzipien unserer Verfassung und der völkerrechtlichen Verträge, namentlich der europäischen Menschenrechtskonvention, anders handeln würde, das heisst die Betroffenen anhören und die Verhältnismässigkeit der Landesverweisung prüfen beziehungsweise die Kantone dazu anhalten.
Das Bundesgericht hat in einem Bundesgerichtentscheid von 2012 festgehalten, dass auf die Verhältnismässigkeitsprüfung nicht verzichtet werden könne. Werden unbeugsame Bundesrichter bei einer Annahme der DI abgewählt werden?
Das hoffe ich nicht. Aber es würde ganz sicher massiven politischen Druck auf die Unabhängigkeit des Bundesgerichts geben.
Wie wichtig ist aus ihrer Sicht, dass das Prinzip der Verhältnismässigkeit mit einer Härtefallklausel erhalten bleibt?
Dies ist sehr wichtig. Jedes Individuum hat Anspruch darauf, dass sein Fall, seine Situation geprüft wird. Dabei geht es um ein elementares Gebot der Gerechtigkeit. Liegt ein Härtefall vor, kommt es darauf an, ob das öffentliche Interesse an der Ausweisung das private Interesse am Verbleiben überwiegt. Je weniger gravierend eine Straftat ist, desto eher kann das private Interesse am Verbleiben überwiegen – und umgekehrt. Eine der Gerechtigkeit verpflichtete Justiz kommt ohne das Abwägen der Interessen nicht aus und wird nie uniform sein. Die Durchsetzungsinitiative setzt indessen mit dem Automatismus auf Uniformität und will daher die dritte Gewalt, die Judikative, ausschalten.
Teilen Sie die Ansicht des Bundesrichters Thomas Stadelmann, dass mit der DI auch die Demokratie gefährdet ist?
In der Demokratie müssen Entscheide zwangsläufig nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden. Doch gibt es Grenzen. Der Stärkere, die Mehrheit, darf sich nicht einfach über legitime Ansprüche des Schwächeren, der Minderheit hinwegsetzen. Das macht letztlich die Demokratie aus. Um im Kontext zu bleiben: Auch Minderheiten haben ein Recht, vor Eingriffen in ihre Grundrechte angehört zu werden und dass ihr Fall individuell geprüft wird. Im Übrigen untergräbt die DI auch unseren demokratischen Gesetzgebungsprozess. Die DI läuft auf ein Gesetz hinaus, zu welchem es kein Vernehmlassungsverfahren, keine Botschaft, keine Kommissions- und Parlamentsberatungen gab.
Das Gespräch führte Marion Ronca.