Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse stellt dem Schweizer Notensystem ein schlechtes Zeugnis aus. Die Schulnoten seien für Lehrbetriebe zu wenig aussagekräftig. So liessen sich Bewerberinnen und Bewerber auf Lehrstellen schlecht vergleichen. Economiesuisse fordert deshalb eine einheitliche Notenvergabe an Schulen. Das klingt zwar gut, sagt Philippe Wampfler. Es sei aber scheingenau. Er ist Dozent für Fachdidaktik an der Universität Zürich.
SRF News: Was meinen Sie mit Scheingenauigkeit?
Philippe Wampfler: Scheingenau bedeutet, dass es sehr genau wirkt. Notenwerte kann man teilweise auf Nachkommastellen genau berechnen. Doch was man berechnet, ist in den Daten nicht drin. Economiesuisse schwebt ein System vor, das keine Noten haben muss und genau ist. So hätten die Werte eine Aussagekraft und man könnte Schülerinnen vergleichen. Ich bezweifle, dass es dieses System geben kann. Die Forschungsdaten dazu mahnen auch eher zur Skepsis als zum Optimismus.
Im Economiesuisse-Bericht wird beispielsweise jedes Fach in Unterkategorien mit konkreten Zahlenwerten unterteilt. Wäre das nicht deutlich differenzierter als Schulnoten von 1 bis 6?
Das meine ich mit Scheingenauigkeit: Es scheint mehr Informationen zu enthalten. Aber die Frage ist, was ist im Hintergrund tatsächlich passiert und was bedeutet das letztlich in der Praxis? Das müsste so zuverlässig sein, dass jemand mit einem höheren Score auch bestimmte konkrete Probleme deutlich besser lösen kann. Die Fehleranfälligkeit von solchen Messungen ist sehr gross.
Welche Alternativen sehen Sie?
Mir schwebt vor, dass Schulen Kompetenzen attestieren können. Lehrbetriebe können Anforderungen an die Jugendlichen festlegen. Und Schulen können sagen, ob sie der Meinung sind, dass diese Jugendlichen das mitbringen oder nicht. Es ist nicht realistisch, das in Zahlenwerten zu haben, die über die Kantone hinweg vergleichbar sind.
Es braucht eine bessere Abstimmung des schulischen und beruflichen Lernens.
Der Aufwand einer solchen Harmonisierung wäre unverhältnismässig gross. Man müsste alle Lehrmittel angleichen und Tests entwickeln. Es könnte sein, dass die Ergebnisse in gewissen Kantonen deutlich schlechter sind als in anderen. Entsprechend würden die Lehrstellen vergeben werden. Ich glaube nicht, dass die Kantone bereit wären, ein solches System umzusetzen.
Bei einer Einschätzung der Kompetenzen braucht es wiederum eine Zahl oder einen Wert. Welche konkrete Alternative sehen Sie dort?
Die Alternative für mich ist klar: «pass/fail» – ist diese Kompetenz vorhanden oder nicht? Es geht um sachliche Anforderungen. Beispielsweise: In unserem Betrieb ist es wichtig, dass man auf Französisch telefonieren kann. Dann kann man sagen: Kann die Person einen Telefonhörer abnehmen und sich auf Französisch in ein paar Sätzen verständigen? Diese sachliche Einschätzung sollte so machbar sein, dass auch die Bewerteten selber das so einsehen.
Was können Schulen tun, um Lehrbetrieben eine solide Entscheidungsgrundlage zu geben?
Das Problem ist komplex. Die Lehrbetriebe brauchen genügend Zeit und Ressourcen, um Jugendliche arbeiten zu lassen und dann einschätzen zu können, ob sie Potenzial sehen, dass sie eine Lehre erfolgreich bewältigen können. Auch die Berufsschule stellt häufig hohe Anforderungen. Dann sind Lehrbetriebe manchmal unsicher, ob die Lehrlinge auch die schulischen Anforderungen bestehen können. Es braucht eine bessere Abstimmung des schulischen und beruflichen Lernens.
Das Gespräch führte Oliver Kerrison.