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Eisenbahnerdorf Erstfeld Krampfen, kämpfen, singen: das Bähnlerleben in Erstfeld

Neue Archivdokumente des Lokomotivpersonalverbandes zeigen ein facettenreiches Bild der Bahnangestellten in Erstfeld.

1882 wird die Gotthardbahn eröffnet – eine 206 Kilometer lange Nord-Süd-Verbindung. Und in Erstfeld ist ab sofort nichts mehr, wie es einmal war. Erstfeld wird als Standort des sogenannten Traktionswechsels auserkoren. Das heisst: In Erstfeld müssen die Züge mit zusätzlichen Lokomotiven verstärkt werden, damit sie die Bergstrecke schaffen.

«Dazu brauchte es eine Werkstatt oder ein Depot. Es entstand eine ganze Infrastruktur um diese Wechselstation», sagt der Urner Historiker Urs Kälin. Er hat für das Staatsarchiv Uri das Archiv des Lokpersonalverbandes Erstfeld erschlossen und sich somit intensiv mit der Erstfelder Eisenbahngeschichte auseinandergesetzt.

Erstfeld wächst rasant

Das kleine Urner Bauerndorf wird schlagartig zum Eisenbahnerdorf. Aus allen Teilen der Schweiz reist Personal an: Lokomotiv- und Zugführer, Kondukteure, Weichenwärter, Bremser, Zugbegleiter, Heizer, Magaziner.

Die Bevölkerungszahl vervielfacht sich. In den besten Zeiten zählt Erstfeld über 4000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Auch baulich verändert sich das Dorf. Es werden für die Eisenbahnarbeiter extra Wohnungen und Häuser gebaut.

Ladenlokale, Schulen und Gewerkschaften

Die Eisenbahnmitarbeiter organisieren sich. Sie gründen beispielsweise einen Konsumverein – ein stetig wachsendes Unternehmen mit Grossbäckerei, Sennerei, Schuhmacherei und verschiedenen Läden. «Sie setzten sich auch für die Bildung ein», sagt Urs Kälin. «Sie waren unzufrieden mit den mangelhaften Schulen in Erstfeld. Die Gotthardbahn baute ihnen daraufhin eine Sekundarschule.» Auch eine Badeanstalt entsteht.

Und in der Freizeit formieren sie sich auch schon mal zu einem Männerchor.

Schwarz-weiss Foto eines Männerchors.
Legende: Treffen abseits der Arbeit. Männerchöre wurden an vielen Standorten des Zugpersonalverbandes gegründet. Auch die Sektion Erstfeld hatte ihren eigenen Männerchor. Das Bild stammt aus der Festschrift «75 Jahre ZPV (Schweiz)» aus dem Jahr 1960. Staatsarchiv Uri

Auch gewerkschaftlich sind die Eisenbahner organisiert. Im Lokomotivpersonalverband oder im Zugpersonalverband beispielsweise. «In den Unternehmen gab es unterschiedliche Milieus. Es gab Angestellte und Arbeiter. Die Angestellten erhielten einen Monatslohn, die Arbeiter einen Stundenlohn.» Das führt bisweilen zu Unstimmigkeiten innerhalb der Gewerkschaften.

Zwischen 1915 und 1935 gab es ein geschlossenes Bahnmilieu in Erstfeld.
Autor: Urs Kälin Historiker

Generell aber ist der Stolz, bei der Eisenbahn zu arbeiten, gross. Als 1909 die Gotthardbahn verstaatlicht und die SBB neu Arbeitgeberin wird, beginnt allerdings der Kampf für einen gleichbleibenden Lohn. 1910 gibt es eine grosse Kundgebung in Uri – tausende Eisenbahnarbeiter nehmen teil. Sie reisen aus der ganzen Zentralschweiz an.

Sozialdemokratisch im konservativen Erstfeld

Auch wenn sich Erstfeld bis heute gerne als Eisenbahnerdorf sieht: Es herrscht im Dorf nicht immer eitler Sonnenschein. «Zwischen 1915 und 1935 gab es ein geschlossenes Bahnmilieu in Erstfeld. Mit eigenen Vereinen und stark sozialdemokratisch geprägt», sagt Urs Kälin.

Das führte zu Spannungen mit der konservativen Erstfelder Dorfbevölkerung und ganz besonders auch mit der Kirche. Die verbietet, dass ein Katholik gleichzeitig in einer sozialdemokratischen Gewerkschaft sein darf. Das akzeptieren die Gewerkschaften nicht. Sie schaffen es, dem Bischof Zugeständnisse abzuringen.

Erstfeld und die Eisenbahn: eine lange Geschichte. Eine Geschichte, die mit dem Bau der Neat ein jähes Ende bekommt. Die meisten Züge verschwinden heute noch vor Erstfeld in den Gotthardtunnel. Arbeitsplätze wurden abgebaut, viele Leute zogen aus Erstfeld weg.

Was bleibt, sind dennoch die zahlreichen Geschichten der Eisenbahner, gut aufbewahrt im Staatsarchiv Uri.

Regionaljournal Zentralschweiz, 17.4.2024, 12:03 Uhr ; 

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