Seit dem 1. Juni 1986 politisert Paul Rechsteiner unter der Bundeshauskuppel, zunächst im National-, später im Ständerat. Der langjährige Gewerkschaftspräsident verlässt die politische Bühne in Bern auf Ende Jahr. Gegenüber SRF News zieht er Bilanz.
SRF News: Wenn Sie zurückschauen auf die 36 Jahre: Was hat sich seither am meisten verändert?
Paul Rechsteiner: Es hat extrem viel Veränderungen gegeben. Als ich kam, gab es noch kein Internet, man hat auf der Schreibmaschine geschrieben. Aber die grösste Veränderung für Politik und Gesellschaft ist vermutlich die Geschlechterfrage. Als ich anfing, galt noch das alte Eherecht, mit dem Mann als Oberhaupt der Familie. Dann ging es Schritt für Schritt vorwärts, da spielte auch der Frauenstreik von 1991 eine grosse Rolle, und die Nichtwahl von Christiane Brunner, was eine riesige Welle der Solidarität in der Bevölkerung auslöste. Die Auswirkungen spürt man bis heute, bei der Bundesratswahl vom letzten Mittwoch zum Beispiel.
Was waren Ihre grössten Erfolge in den letzten 36 Jahren?
Es gab vieles, was gelungen ist – neben einigen Niederlagen. Herauszuheben ist sicher der neue Lohnschutz mit flankierenden Massnahmen. Wichtig natürlich auch der Kampf um den Sozialstaat als wichtigste Errungenschaft des 20. Jahrhundert. Und jetzt ist mir das Bürgerrecht ein ganz grosses Anliegen, ein Vermächtnis, das ich der Politik mitgeben möchte. Es gibt über 2 Millionen in der Schweiz, über ein Viertel unserer Bevölkerung, welche kein Stimmrecht, kein Wahlrecht, kein Bürgerrecht haben. Das sind auch Menschen, die hier geboren, hier aufgewachsen sind. Hier hat die Schweiz Aufholbedarf.
Sie haben gesagt, das sei Ihr Vermächtnis. Aber das war eine Niederlage für Sie dieses Jahr, das Bürgerrecht per Geburt, «ius soli», haben Sie nicht durchgebracht.
Ja, das ist mir bewusst. Aber ich finde, man muss jetzt einen Stein nach vorne werfen. Wir haben in meinen frühen Parlamentsjahren das Verbot des doppelten Bürgerrechts abgeschafft, das hatte grosse Wirkungen. Damals war die Schweiz in diesem Punkt voraus. Aber in den letzten 20 Jahren gab es keine Fortschritte mehr. Die Schweiz ist es sich schuldig, einen Schritt nach vorne zu machen.
Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, das ist mein Haupttreiber.
Seit 45 Jahren sind Sie politisch tätig, ab 1977 sassen Sie im Gemeindeparlament St. Gallen. Was hat Sie politisch angetrieben, und was treibt Sie immer noch an?
Die soziale Gerechtigkeit. Wenn man von unten kommt – ich bin ja der Sohn einer Putzfrau, mein Vater war Bauernknecht, dann Gramper, Packer, Magaziner – dann muss man einem die Welt nicht mehr erklären, wie sie funktioniert. Wenn man unsere heutige Gesellschaft anschaut, ist es unten nach wie vor nicht einfach; es spielt also eine grosse Rolle, ob wir unseren Sozialstaat verteidigen können, die starke Rolle der AHV, die Chancen für alle, für die Jungen vor allem, eine Ausbildung zu machen. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, das ist mein Haupttreiber.
Was werden Sie vermissen, wenn Sie nicht mehr im Parlament sind?
Mein Freundeskreis liegt ausserhalb des Parlaments. Ich werde ein politischer Mensch bleiben, viele meiner Interessen sind völlig an einem anderen Ort. Ich bin kulturell interessiert, so gesehen glaube ich nicht, dass ich grosse Entzugserscheinungen haben werde. Ich bin über 70, mein Rücktritt ist ein frei gewählter Entscheid mit einem guten Gefühl.
Das Gespräch führte Urs Leuthard.