Was, wenn nach einer Scheidung nicht genug Geld da ist, um Kinder und Ex-Partnerin oder Ex-Partner zu finanzieren? Wer kommt an erster Stelle – insbesondere, wenn die Kinder volljährig sind? Einen solchen Fall hat das Bundesgericht in Lausanne beraten – und entschieden, dass alles bleibt, wie es ist: die Ex-Gattin oder der Ex-Gatte haben Vorrang. Aber die Sachlage ist nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, erklärt SRF-Redaktor Andreas Stüdli.
SRF News: Um was für einen Fall ging es konkret?
Andreas Stüdli: Es handelte sich um eine Familie aus dem Tessin. Eine Mutter, ein Vater und drei Töchter. Nur die Mutter verfügte über Einkommen. Sie musste also nicht nur den Kindern, sondern auch dem Ex-Mann Unterhalt bezahlen. Umstritten waren vor allem die Ansprüche der mittleren Tochter. Sie wurde zwei Jahre nach der Scheidung volljährig.
Es sei nicht die Rolle des Bundesgerichts, ein Gesetz zu korrigieren, so die Mehrheit der Richter.
Die Tessiner Gerichte entschieden, dass die Unterhaltsansprüche des Ex-Mannes aufgeschoben werden, bis diese inzwischen volljährige Tochter ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Dagegen ging der Ex-Mann vor Bundesgericht – und erhielt nun Recht. Seine Beschwerde wurde mit einer Mehrheit von drei zu zwei Stimmen gutgeheissen.
Ein Teil des Gerichts war offenbar der Ansicht, dass heute eine Lücke bei der Finanzierung von volljährigen Scheidungskindern besteht.
Die zwei unterlegenen Richter waren der Ansicht, dass diese Frage im Gesetz schlicht nicht geregelt sei, dass es also eine Gesetzeslücke gebe. In der Tat ist im Zivilgesetzbuch nur geregelt, dass minderjährige Kinder Vorrang haben und nur dann Ausnahmen gemacht werden können, wenn wegen dieses Vorranges ein volljähriges Kind massiv benachteiligt würde.
Einer der Bundesrichter schloss in der Beratung nicht aus, dass nach diesem Urteil das Unterhaltsrecht in Bundesbern noch einmal revidiert werden könnte.
Die Frage ist nun, wie man dieses Gesetz interpretiert. Die beiden unterlegenen Richter waren mit Nachdruck der Ansicht, dass der Gesetzgeber nie einen Vorrang des Ehegattenunterhalts gewollt hat – egal, ob es auf Kosten eines minder- oder volljährigen Kindes geht. Das Bundesgericht müsse deshalb seine bisherige Rechtsprechung dazu ändern.
Trotzdem hält das Bundesgericht an der heutigen Praxis fest. Warum war eine Mehrheit der Richter anderer Ansicht?
Sie schauen es genau umgekehrt an. Ihrer Ansicht nach gab es keine Gesetzeslücke und sie argumentierten, dass es seit drei Jahren ein neues Unterhaltsrecht gebe. Bei der Beratung dieses Unterhaltsrechtes in den Kommissionen im Bundeshaus sei die Frage diskutiert worden, ob man volljährige Kinder gleich behandeln solle wie minderjährige. Das sei dann abgelehnt worden. Deshalb habe der Gesetzgeber – also National- und Ständerat – hier keine Lücke offen gelassen. Es sei nicht die Rolle des Bundesgerichts, ein Gesetz zu korrigieren, so die Mehrheit der Richter.
Kann man die Argumentation so interpretieren, dass eine Minderheit des Bundesgerichts das heutige Unterhaltsrecht für nicht mehr zeitgemäss hält?
Ganz klar. Die beiden unterlegenen Richter sehen dieses Problem nicht nur im Gesetz als zu wenig geregelt an. Sie halten auch die Rechtsprechung des Bundesgerichts in dieser Frage für veraltet. Einer der Bundesrichter schloss in der Beratung nicht aus, dass nach diesem Urteil das Unterhaltsrecht in Bundesbern noch einmal revidiert werden könnte. Das muss sich noch zeigen, es gibt noch keine konkreten Vorstösse in diese Richtung. Aber die Frage bleibt natürlich brisant: In der Schweiz gibt es viele Scheidungen und das Geld reicht oft nicht aus, um alle Unterhaltsansprüche zu decken. Die Diskussionen darüber werden also nicht abreissen.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.