Wer vor Gericht angeklagt ist und sich keinen Anwalt leisten kann, erhält in der Schweiz eine Verteidigerin oder einen Verteidiger. Viele dieser Pflichtverteidiger werden am Aargauer Obergericht aber nicht korrekt bezahlt, sagt das Bundesstrafgericht jetzt in 17 neuen Entscheiden . Die Honorare seien zu Unrecht gekürzt worden. Damit rüffelt das Bundesstrafgericht das Aargauer Obergericht nicht zum ersten Mal.
Bereits 2020 hiess das Bundesstrafgericht mehrere Beschwerden von Aargauer Anwälten gut. Die erste Strafkammer des Obergerichts hatte ihre Honorare jeweils pauschal gekürzt, um bis zu 80 Prozent. Das Bundesstrafgericht verlangte daraufhin für die Anwälte Entschädigungen. Nun ging es um 17 Fälle, bei denen Honorare zum Teil um mehr als 70 Prozent gekürzt worden waren, in 16 von 17 Fällen von derselben Strafkammer.
In Justizkreisen sei die Aargauer Praxis berüchtigt, sagten Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger letzte Woche in der Aargauer Zeitung . Der Anwaltsverband befand im Zeitungsartikel, der Gerichtspräsident dieser Strafkammer müsse bei den kommenden Wahlen abgewählt werden. Die Justizleitung widersprach und fand, der Anwaltsverband missachte mit dieser Wahlempfehlung die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter.
Am Dienstag hiess es beim Obergericht auf Anfrage, das Strafgericht habe in den letzten zwei Jahren (2020-2021) mehr als 1300 Fälle entschieden: «Es geht um eine vergleichsweise geringe Anzahl Fälle, die vom Bundesstrafgericht bemängelt worden ist», schreibt Corina Trevisan, Mediensprecherin der Aargauer Gerichte. Das Obergericht werde die Rechtsprechung in weiteren Entscheiden berücksichtigen.
Happige Kürzungen der Honorare
In einem Fall hat die erste Strafkammer des Obergerichts den Aufwand des Verteidigers von 21 Stunden und 50 Minuten nicht akzeptiert. 10 Stunden würden reichen. Der Verteidiger sei erfahren und wisse, wie man Akten «zielgerichtet studiere». Der Verteidiger wiederum wies darauf hin, dass die Akten acht Bundesordner mit 3500 Seiten umfassten.
In einem anderen Fall kürzte das Obergericht die Forderung einer Verteidigerin von 29'971 auf 6120 Franken. Vier Treffen mit ihrem Mandanten seien nicht nötig gewesen. Die rechtlichen Fragen seien trotz hoher Freiheitsstrafe in diesem Fall nicht anspruchsvoll gewesen. Ihr Plädoyer habe keine neuen Ausführungen ans Licht gebracht.
In den Verfügungen des Bundesstrafgerichts ist von ratlosen Verteidigern die Rede, die nicht verstehen, wie das Obergericht die Kürzungen begründet. Das Obergericht habe sein «Ermessen missbräuchlich ausgeübt». Es fehlten sachgemässe Kriterien.
Risiko für alle?
Wenn Verteidigerinnen und Verteidiger nicht mehr für ihren Aufwand entschädigt werden – die Fahrten ins Gefängnis zu ihren Mandanten, die Vorbereitungen für den Gerichtsprozess – dann ist nicht garantiert, dass sie den Angeklagten verteidigen, wie sie müssten.
Das Bundesstrafgericht warnt, dass ein Teufelskreis entstehen könnte: Wenn ein Verteidiger davon ausgehen müsse, dass nur ein Bruchteil seiner Forderungen gedeckt werden, könne dies dazu verleiten, zu hohe Rechnungen zu stellen – um am Ende doch noch eine angemessene Vergütung zu erhalten.
Die Verfügungen des Bundesstrafgerichts sind rechtskräftig. Eine Beschwerde beim Bundesgericht einzulegen, ist nicht möglich, heisst es auf Anfrage.