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Erneuerbare Energien Ein Boom in Deutschland mit Strahlkraft bis in die Schweiz

Dank staatlicher Förderbeiträgen boomen erneuerbare Energien in Deutschland. Mit Auswirkungen auf ganz Europa.

Mittag, blauer Himmel über Süddeutschland. An diesem Herbsttag entfaltet die Sonne nochmals ihre volle Kraft. So wie schon oft in diesem Jahr. Zwischen Tausenden von Solarmodulen steht Bene Müller und bilanziert: «2019 ist ein leicht überdurchschnittliches Solarjahr. Das lässt sich bereits jetzt sagen, weil drei Viertel des Jahresertrages im Sommer kommen, von April bis September».

Bene Müller ist Geschäftsführer von Solarcomplex, einem Solarunternehmen aus Singen (D). Im Raum Konstanz hat das Unternehmen in den vergangenen 20 Jahren über 1000 Photovoltaik-Anlagen gebaut. Eine davon ist in Rickelshausen, wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt: «Das ist unsere erste Photovoltaik-Anlage auf einer Freifläche, hier auf einer stillgelegten Mülldeponie. Wir machen rund 7 Millionen Kilowattstunden im Jahr.» Das entspricht dem privaten Stromverbrauch von 7000 Menschen.

Sonne und Wind im Aufschwung

Die Solaranlage in Rickelshausen ist eine von über zwei Millionen Photovoltaik-Anlagen, die inzwischen in Deutschland installiert ist. Sie steht damit auch für den gewaltigen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten: Im ersten Halbjahr 2019 dürften 44 Prozent des deutschen Stroms aus Wasserkraft, Wind, Sonne oder Biomasse kommen, so die jüngste Schätzung des Umweltbundesamts. Ein neuer Rekord. Noch vor 20 Jahren hatten die erneuerbaren Energien einen Anteil von wenigen Prozenten. Parallel dazu ist die Stromproduktion von Kohle- und Kernkraftwerken stetig zurück gegangen.

Durchbruch dank staatlicher Förderung

Angeschoben wurde der Boom der erneuerbaren Energien durch staatliche Förderbeiträge. Die Grundlage wurde im Jahr 2000 mit dem Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG) gelegt. «Ohne die staatliche Förderung würden wir nicht da stehen, wo wir heute sind», ist Solarpionier Müller überzeugt und fährt fort: «Auch wäre kein Massenmarkt für Solarmodule entstanden».

Der Boom der erneuerbaren Energien wird in Deutschland weitergehen. Doch bereits heute hat er Auswirkungen auf die Stromproduktion in ganz Europa. An sonnigen Tagen ist der Anteil des Solarstroms zwischenzeitlich so gross, dass die Strompreise sinken. Die Folgen davon zeigen sich auch im Berner Oberland, im Haslital.

Der Strompreis bestimmt die Stromproduktion

Mittag, blauer Himmel über dem Haslital. «Jetzt läuft bei uns nur eine von 5 Maschinen», erklärt Gian-Marco Maier, Produktionsleiter bei den Kraftwerken Oberhasli (KWO), in der riesigen Kaverne in Innertkirchen. Hier befindet sich das leistungsstärkste von insgesamt 13 Kraftwerken der KWO.

Weiter oben, im Grimsel- und Sustengebiet, fassen die KWO das Wasser der umliegenden Gletscher und nutzen es ein erstes Mal zur Stromproduktion. Über unterirdische Druckstollen gelangt das Wasser anschliessend ins Tal, treibt in Innertkirchen nochmals die Turbinen an und ergiesst sich schliesslich in die Aare. So produziert die KWO jährlich Strom für eine Million Menschen.

«Wir haben jetzt Mittag, die Sonne scheint. Das heisst, momentan gibt es wahrscheinlich in Europa Strom im Überfluss», erklärt Maier. Ein Blick auf die Strompreiskurve bestätigt seine Vermutung: Am Mittag erreichen die Strompreise für diesen Tag ihren Tiefpunkt; ein Indiz für ein grosses Stromangebot. Angesichts des sonnigen Wetters in Deutschland, ist ein Teil dieses Angebotes der dortigen Solaranlagen zuzuschreiben. Die KWO wiederum setzt ihre Maschinen mit Vorliebe dann in Betrieb, wenn die Preise höher sind. Ein Zeichen, dass Strom eher knapp ist: «Am Morgen, zwischen 6 und 10 Uhr, und ab 18 Uhr sobald die Sonne untergeht», erklärt Maier anhand einer Grafik, die den Produktionszyklus der Turbinen für den gesamten Tag zeigt.

…und wenn es regnet und kalt ist?

Im Haslital zeigt sich wie stark der Strompreis heute die Produktion steuert. Und zwar über die Landesgrenzen hinweg. Wenn es in Deutschland allerdings regnet oder windstill ist, sieht die Situation ganz anders aus. Erst recht in den kalten und trüben Wintermonaten. In solchen Situationen liefern die Kern- und Kohlekraftwerke in Deutschland konstant Strom. Auch die Schweiz bezieht während dieser Periode einen Teil ihres Strombedarfs bei diesen Anlagen. Ab Dezember dürfte es wahrscheinlich sogar noch mehr sein, weil das AKW Mühleberg endgültig vom Netz geht.

In Deutschland stehen allerdings beide Kraftwerkstypen auf dem Abstellgeleis: Bis 2022 werden alle Kernkraftwerke ausser Betrieb gesetzt. Die Stein- und Braunkohlekraftwerke wiederum sind wegen ihres immensen CO2-Ausstosses umstritten. Die Schweiz und Europa stehen somit vor der Herausforderung, dass – insbesondere – im Winter nicht der Strom ausgeht.

Stromspeicherung für die kalten Monate

Die Schweiz ist mit ihren Speicher- und Pumpspeicherseen vergleichsweise gut aufgestellt. Allerdings müssen für eine sichere Stromversorgung die Speicherkapazitäten ausgebaut werden. Die KWO verfolgt zwei Projekte: Eine Erhöhung der Grimselsee-Staumauer würde das Fassungsvermögen deutlich vergrössern. Das zweite Projekt wäre der Bau einer neuen Staumauer beim sich zurückziehenden Triftgletscher. «Mit beiden Projekten hätten wir die Möglichkeit, zusätzlich 500 Gigawattstunden Strom vom Sommer in den Winter zu verlagern. Das ist ein wesentlicher Beitrag», erklärt Gian-Marco Maier in der Leitzentrale Innertkirchen. Der Bund geht davon aus, dass die Schweiz bis 2050 die Jahresproduktion der Wasserkraft um gut 3'200 GWh auf 38'600 GWh ausbauen muss. Bislang zögern die Aktionäre der KWO allerdings mit einer Umsetzung der beiden Projekte: Zum einen wegen der tiefen Strompreise, zum anderen wegen hängiger Einsprachen.

In jedem Fall aber wird sich die Stromerzeugung in Europa in absehbarer Zeit weiter stark verändern, vor allem werden die erneuerbaren Energien die fossilen und nuklearen Quellen immer mehr ablösen.

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