Darum geht es
- Der Fall Adeline sorgte vor vier Jahren für Aufsehen: Während eines Freigangs tötete ein verurteilter Vergewaltiger seine Sozialtherapeutin.
- Ein erster Prozess wurde abgebrochen. Heute beginnt in Genf die Gerichtsverhandlung gegen den mutmasslichen Mörder noch einmal von vorne.
- Nicht nur vor Gericht ist in diesem Fall vieles schiefgelaufen, sondern schon während des Strafvollzugs im Genfer Gefängnis La Pâquerette.
- Heute steht um die Therapien für gefährliche Straftäter nicht besser – obwohl es inzwischen ein neues Gefängnis für psychisch Kranke gibt.
Auf den ersten Blick scheint heute alles klar: Die Therapiestation La Pâquerette, in der Fabrice A. vor vier Jahren als Häftling seine Flucht und vielleicht sogar die Ermordung seiner Therapeutin vorbereiten konnte, ist geschlossen worden. Geisteskranke Gewalttäter und Häftlinge im Massnahmenvollzug werden mittlerweile in einem neu gebauten Spezialgefängnis namens Curabilis betreut.
Die Soziotherapie in Genf ist für immer mit La Pâquerette und dem Adeline-Drama verbunden.
Das Arztgeheimnis sowie die Soziotherapie, die praktische Hilfestellung für schwerkranke Täter, sind dort de fakto abgeschafft. Soziotherapie sei ein «politisches Tabu» geworden, erklärt Strafvollzugsexperte Florian Hübner. «Soziotherapie in Genf ist für immer mit La Pâquerette und dem Adeline-Drama verbunden. Ich kann schon verstehen, dass man nicht so weitermachen wollte.»
Hübner war der erste Direktor der neuen Therapiestation Curabilis. Er legte aber schon nach sechs Monaten die Leitung nieder. Inzwischen steht Curabilis nach nur drei Jahren unter der Leitung des vierten Direktors. Über seinen eigenen Abgang spricht Hübner nicht. Aber zu der Zeit nach dem Mord sagt er: «Das war ein Trauma für das ganze System. Es war schwierig, das Vertrauen auf demselben Niveau zu halten, wie es bei den Vorarbeiten zu Curabilis herrschte.»
Verheerende Bilanz der Kommission
Vertrauen und Zusammenarbeit unter den Verantwortlichen wäre aber entscheidend für einen sinnvollen Umgang mit den schwierigsten Häftlingen. Die Experten der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter haben Curabilis letztes Jahr besucht.
Im März veröffentlichten sie ihren Bericht. Und der bestätigt, dass Hübners Beobachtung zum fehlenden Vertrauen noch immer aktuell ist. In Curablilis arbeiten das medizinische und das Sicherheitspersonal nebeneinander her in Parallelstrukturen.
Der Bericht empfiehlt umgehende Reformen und vertrauensbildende Massnahmen wie Praktika im jeweils anderen Team.
Die Experten des Bundes hatten Mühe, die Abläufe in Curabilis überhaupt nachzuvollziehen. Es fehlten Therapieziele und Massnahmepläne, organisatorische Strukturen seien doppelt vorhanden, grundlegende Dinge wie eine regelmässige Beschäftigung der Insassen fehlten hingegen. Für Ausbildung und Arbeit der Häftlinge seien nicht einmal Räume vorhanden.
Veraltetes Projekt nicht Bedürfnissen angepasst
Stimmt, meint Hübner, und erklärt das damit, dass Curabilis als Projekt 30 Jahre auf Eis gelegen hat. «Von der Architektur her stammt die Infrastruktur aus den 70er-Jahren. Das hat man so übernommen, ohne zu überlegen, ob das Ganze noch Sinn macht.» Dann sei es zu spät gewesen, so der ehemalige Leiter.
Ist Curabilis ein Potemkinsches Dorf, ein 100-Millionen-Franken teurer Neubau, der zwar gut aussieht, aber nicht funktioniert? Der frühere Präsident der Kommission gegen Folter, Jean-Pierre Restellini, meinte letztes Jahr, dass es vielleicht besser wäre, Curabilis gleich wieder zu schliessen. Das Konzept sei ein Unding. Als Jurist und Psychiater ist Restellini ein Kenner der Materie.
Von der Architektur her stammt die Infrastruktur aus den 70er-Jahren. Das hat man so übernommen, ohne zu überlegen, ob das Ganze noch Sinn macht.
Das Genfer Sicherheitsdepartement aber lehnt drei Interviewanfragen zum Thema ab. Grund: Der Expertenbericht sei nun schon zwei Monate alt. Das Gefängnis funktioniere. Die Anfangsschwierigkeiten rührten daher, dass Curabilis in Europa eine einzigartige Einrichtung sei. Inzwischen aber hätten bereits acht Häftlinge die Anstalt wieder verlassen können. Florian Hübner sagt, er habe noch immer Kontakte zu Mitarbeitenden. «Auch sie bestätigen: Curabilis funktioniert.»
Schliessung von Curabilis würde Problem nicht lösen
«Ob Curabilis Sinn macht oder nicht: Es hat den Vorteil, dass es existiert, es ist da. Und wenn man es schlösse: Was macht man mit den 50 Leuten, die sich jetzt dort befinden? Das wäre eine Katastrophe für diese Leute.» So die Sicht des Praktikers, der die Anstalt mit aufgebaut hat. Trotzdem fällt die Dringlichkeit auf, mit der die nationalen Experten in ihrem Bericht Reformen verlangen.
Natürlich gebe es Probleme, sagt Hübner: «Wenn Sie 25 oder 30 Jahre alt sind und Sie warten den ganzen Tag, bis Sie den Psychologen sehen, und sonst passiert nichts, dann bringt das eher wenig.»
Doch die Forderung nach Räumen für Ausbildung und Arbeit stösst in Genf auf taube Ohren. Dafür gebe es keine gesetzliche Pflicht, lautet die Antwort des Sicherheitsdepartements. Vielleicht aber geht es auch einfach darum, dass der Umbau des Neubaus ein Gesichtsverlust wäre, das Eingeständnis einer Fehlplanung. Und im Fall Adeline, bei dem schon so viele Fehler begangen worden sind, wäre das politischer Zündstoff.