Die Mittagspause in der Kantine ist für viele Arbeitskräfte in der Schweiz das alltägliche Ritual. Seit 100 Jahren ist das möglich. Denn am 12. Januar 1918 öffnete in Uzwil (SG) die erste Kantine der Schweiz ihre Pforten. Es war die Kantine der Maschinenfabrik Gebrüder Bühler. Sie existiert heute noch.
Die Idee : Die Zürcherin Else Züblin-Spiller hatte die Idee zum Kantinenmodell. Während des Ersten Weltkriegs hatte sie sogenannte Soldatenstuben betrieben. Dort wurde den Soldaten zwar kein Alkohol, aber dafür gesundes Essen serviert. Ausserdem dienten die Stuben als Verweilort.
Nach dem Krieg wollte Züblin-Spiller ihren «Verband Schweizer Soldatenwohl» am Leben halten. Mit verschiedenen Firmenpatrons war sie in Kontakt. Die Firma Bühler in Uzwil sei schliesslich auf Züblin zugekommen, sagt der Historiker und emeritierte Professor der Universität Zürich, Jakob Tanner.
Die dortige Arbeiterschaft sei kämpferisch gewesen und habe immer wieder gestreikt, erklärt Tanner. Es habe Spannungen gegeben. Sonja Bühler, deren Schwager Adolf Bühler die Firma leitete, sei deshalb auf die Idee gekommen, es mal mit einer Kantine zu versuchen.
Die erste Kantine: Firmenpatron Adolf Bühler nimmt den Ratschlag Züblin-Spillers an und trifft sich deshalb mehrmals mit ihr. In ihrem Tagebuch hat sie Bühler beschrieben. Er sei zwar ein interessanter Mensch – mit ihm sei aber nicht allzu gut Kirschen essen. Dennoch brachte sie Adolf Bühler dazu, die erste Kantine der Schweiz zu erlauben.
In ihrem Tagebuch notiert sie: «26. Oktober 1917: Auf Wunsch von Adolf Bühler war ich nochmals in Uzwil, um die Grundlagen der Arbeiterkantine mit der Firma festzulegen. Wir haben nun vereinbart, dass, erstens die Firma die ganze Einrichtung besorgt, zweitens der Verband ‹Soldatenwohl› die Betriebsleitung mit allen Bestellungen übernimmt und drittens die Firma die Defizite trägt.»
Die Eröffnung der ersten Fabrikkantine war für den Verband «Schweizer Soldatenwohl» der Auftakt für ein Geschäftsmodell ausserhalb der Armee. Deshalb folgte auch die Umbenennung in «Schweizer Verband Volksdienst».
Die Selbstbedienung: Wenige Jahre später folgte die nächste Revolution in der Schweizer Gastronomie – wieder in der Uzwiler Kantine. Ein neuartiges System wurde eingeführt: die Selbstbedienung. Grund für die Einführung war die schlechte wirtschaftliche Lage Anfang der 1920er-Jahre. Viele Arbeiter konnten sich das Essen in der Kantine schlicht nicht mehr leisten. Der eine Franken für das Menü sei für die Arbeiter zu teuer gewesen, sagt Historiker Tanner. Sie hätten dafür nur noch 50 Rappen gehabt.
Den Arbeitern nur noch die Hälfte zu servieren, war aber unmöglich. Also liess man die Arbeiter selber entscheiden, ob sie nur die Hälfte für beispielsweise 50 Rappen essen wollen. Zusätzlich hätten ohnehin viele Arbeiter etwas von daheim mitgebracht.
Die Selbstbedienung sei zu einer Attraktion geworden, auch 1931 auf der ersten Schweizerischen Ausstellung für Sport und Hygiene, wie Tanner erklärt. Individuelle Ernährungsstile hätten damit praktiziert werden können. «Die Selbstbedienung wird so rasch von einer Krisenmassnahme zum Anzeichen einer Gesellschaft, die die Mangelprobleme gelöst hat.»
Ein grosses Erbe: Else Züblin-Spiller hat im Laufe der Zeit immer mehr Betriebsrestaurants übernommen und damit ein grosses Erbe hinterlassen, das es heute noch gibt: die SV Group. Das Unternehmen ist inzwischen der grösste Personalrestaurant-Betreiber der Schweiz mit über 300 Gastrobetrieben und einem jährlichen Umsatz von über einer halben Milliarde Franken.