Eine beinahe unvorstellbare Masse an Stein, Eis, Schlamm und Wasser begrub am Mittwoch das Dorf Blatten und den Weiler Ried unter sich. Die Experten sprechen von drei Millionen Kubikmeter an Geröll, die vom Kleinen Nesthorn über den Birchgletscher ins Lötschental donnerten. Was ist da passiert – und wo liegen die Gründe?
Hans Rudolf Keusen ist ein gefragter Experte, wenn es ums Einschätzen von Naturgefahren in den Bergen geht. Der 84-jährige Geologe erklärt, was in den letzten Tagen ob Blatten passiert ist: «Im Prinzip ist es ein Gletschersturz, der durch eine gewaltige Last von Bergsturz vom Kleinen Nesthorn verursacht worden ist. Dieses Felsmaterial hat auf den Gletscher gedrückt und ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.»
Die Kombination aus Eis- und Steinsturz in Blatten ist in dieser Form einzigartig.
Das habe es so noch nie gegeben in der Schweiz, so der Geologe. «Es gibt historische Bergstürze in der Schweiz, die ganze Dörfer verschüttet haben wie Goldau oder Elm, die ähnlich sind. Doch die Kombination aus Eis- und Steinsturz in Blatten ist in dieser Form einzigartig.»
Fast zwei Generationen jünger als Hans Rudolf Keusen ist Matthias Huss, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich. Er verweist ebenso auf die Einzigartigkeit des Absturzes in Blatten, ausgelöst durch den Abbruch vom Berg auf den Gletscher. Huss sagt, das geschmolzene Eis habe eine entscheidende Rolle gespielt.
Der Berg- und Gletscherabbruch in Blatten im Lötschental
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Bild 1 von 22. In Blatten und Ried werden Schäden in Höhe von mehreren hundert Millionen Franken erwartet, schätzt der Schweizerische Versicherungsverband SVV . Bildquelle: SRF .
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Bild 2 von 22. Aktuelle Drohnenbilder zeigen: Das Wasser der Lonza bahnt sich einen Weg durch die 2.5 Kilometer langen Schuttmassen und fliesst ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 22. Der See in Blatten wird kleiner. Der Regionale Führungsstab geht derzeit nicht davon aus, dass das Wasser über den Schuttkegel schwappen wird. Bildquelle: SRF .
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Bild 4 von 22. Zuvor ist der Pegel der Lonza gestiegen und der neue See drohte überzulaufen. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 5 von 22. Geröll-, Fels- und Eismassen auf einer Satellitenaufnahme. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 6 von 22. Das Unbehagen bleibt: Auch am Donnerstag sind vom gegenüberliegenden Hang aus weiterhin Abbrüche zu hören und zu sehen. Bildquelle: SRF.
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Bild 7 von 22. Es sei wichtig, der Bevölkerung eine langfristige Perspektive zu bieten, so der Walliser Staatsrat Christophe Darbellay vor den Medien. «Es ist keine Option, das Tal zu verlassen.». Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 22. Der grosse See hat sich aus dem hinter dem Absturzmaterial aufgestauten Wasser der Lonza gebildet und die Häuser inzwischen überflutet. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 9 von 22. Erst der Felssturz, dann die Überflutung: Auch von Häusern in Blatten, die am Mittwoch nach dem Gletscherabbruch noch standen, sind mittlerweile höchstens noch die Dächer sichtbar. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 10 von 22. Die Luftaufnahmen zeigen am Donnerstag das ganze Ausmass der Zerstörung: Der allergrösste Teil des Dorfes Blatten liegt begraben unter Geröll und Schlamm oder ist überflutet. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
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Bild 11 von 22. Das Zuhause einer Familie im Lötschental. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 12 von 22. Wo vorher ein Dorf war, zeigen sich nun überall Bilder der Verwüstung. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 13 von 22. Der Blick vom Berg ins Tal hinab – eine Schneise, die einer klaffenden Wunde gleicht. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 14 von 22. Das Lötschental gilt als Wanderparadies und zieht auch im Winter viele Touristinnen und Touristen an. Nun wurde es von einer Katastrophe ereilt, die ein ganzes Dorf ausgelöscht hat. Bildquelle: Keystone / Jean-Christophe Bott.
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Bild 15 von 22. Das Wasser des Dorfbachs Gisentella und der Lonza staute sich bereits am Mittwochabend östlich des Absturzbereiches in Blatten. Welchen Weg es sich weiter durch die Schuttmoräne bahnen wird, bleibt abzuwarten. Bildquelle: Pomonoa-Medien, Bildschirmfoto Video.
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Bild 16 von 22. Und so kam es zur Katastrophe: Das seit Tagen auf den Birchgletscher stürzende Felsmaterial hatte die Eismassen nach unten geschoben. Am Mittwochnachmittag brach das aufgetürmte Material schliesslich ins Tal ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 17 von 22. Nach dem Abbruch stieg eine Staubwolke aus dem Talgrund und wälzte sich bis über die Lauchernalp (Fotostandort) ins Lötschental. Bildquelle: SRF.
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Bild 18 von 22. Die Staubmassen füllten das hintere Lötschental über der Gemeinde Blatten auf. Hier zeigt sich der Blick nach Osten von Wiler in Richtung Langgletscher. Bildquelle: SRF.
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Bild 19 von 22. Nachdem sich der Staub gelichtet hatte, türmte sich meterhoch Absturzmaterial aus Schutt, Fels, Bäumen und Gletschereis westlich des Dorfes Blatten auf. Im Bild der Blick von Wiler in Richtung Südost. Bildquelle: SRF .
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Bild 20 von 22. So präsentierten sich nach dem Abbruch am Mittwoch die Schuttmassen am südwestlichen Dorfrand mit der Faflerstrasse und der Lonza in der Bildmitte. Bildquelle: SRF.
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Bild 21 von 22. Mehrere Millionen Kubikmeter Gestein: Die Menge an Geröll, die ins Tal stürzte, ist kaum vorstellbar. Mit dem Abbruchmaterial könnten 1200 Olympia-Schwimmbecken gefüllt werden. Bildquelle: SRF.
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Bild 22 von 22. Betroffenheit und Mitgefühl: Die Bundesräte Albert Rösti (rechts) und Martin Pfister während der Medienkonferenz am Mittwoch. Die Schweiz und das Wallis stünden hinter den Einwohnerinnen und Einwohnern Blattens. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
«Sobald Eis dabei ist, ist sehr viel Wasser dabei. Wasser ist wie ein Schmiermittel. Es liegt zwischen den Geröllbruchstücken, und mit diesem enormen Druck, der während einem Sturzereignis aufgebaut wird, entwickelt sich dann diese gewaltige Dynamik, die man auf den Videos eindrücklich erkennen kann.» Das Wasser zusammen mit dem Geröll bildete somit eine wabbelige Masse, die weit rutschte und sich in die Breite ausdehnen konnte und alles unter sich begrub.
Die Rolle des Klimawandels
Wasser, geschmolzenes Eis, auftauender Permafrost: Trägt der Klimawandel die Verantwortung? Huss ist vorsichtig, den Klimawandel als eindeutigen Täter zu benennen. «Man kann sicher nicht direkt sagen, der Klimawandel ist verantwortlich dafür, dass dieses Ereignis jetzt passiert ist. Es ist bestechend, dass wir in den letzten Jahren in den Alpen immer wieder solche grossen Kollaps-Ereignisse von Gipfeln hatten. Ich denke da etwa an den Piz Cengalo oder an den Piz Scerscen im Engadin im letzten Jahr.» Ein Muster gibt es. Zumindest der Verdacht auf Beihilfe besteht also.
Ich sehe eine Zukunft für ein neues Blatten.
Für beide Experten ist klar, dass in den nächsten Tagen abgeklärt werden muss, ob noch mehr Felsabstürze drohen. Auch der sich stauende Fluss Lonza vor dem Schuttkegel könnte zu einer grösseren Folgegefahr werden, Murgänge und Sturzfluten drohen. Sind diese Risiken einmal gebannt, kann die Bevölkerung zurückkehren und das Dorf wieder aufbauen.
Hans Rudolf Keusen ist zuversichtlich: «Es ist vergleichbar mit den Erdbebenstädten, die ausgelöscht wurden und wieder aufgebaut worden sind. Das Leben ist weitergegangen für Generationen. Der Mensch glaubt an eine bessere Zukunft, und daher sehe ich auch eine Zukunft für ein neues Blatten.»