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Französisch vereinfachen Rechtschreibe-Reform in der Romandie im Gegenwind

Zwang oder Toleranz in der Orthografie? Der Reformeifer der Westschweizer Regierungen stösst auf gehörigen Widerstand.

Zum Anfang ein Beispiel: Über den Buchstaben «i» und «u» soll künftig der «Accent Circonflexe» – ein kleines Dach – künftig nur noch dann geschrieben werden, wenn es den Sinn des Wortes verändert.

Sprachwissenschaftler Andreas Dutoit Marthy von der Westschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz erklärt das mit dem Wort «sur»: «Le chat est sur le mur. Aber: Je suis sûr de ma réponse.»

Auch hier werde es mit der geplanten Reform einfacher werden, sagt Dutoit Marthy, der zweisprachig aufgewachsen ist. Gut 2000 Wörter würden durch die Änderungen anders geschrieben in der neuen Rechtschreibung, der «Orthographe rectifiée».

In Frankreich nur eine Variante

Das Ziel sei mehr Chancengleichheit, sagt der Sprachwissenschaftler. Denn die Fähigkeit, korrekt zu schreiben, wirke sich sehr selektiv aus: «Es betont soziale Unterschiede, aber auch Legastheniker leiden sehr darunter. Und für Personen aus einer anderen Sprache ist die Orthografie eine kaum überwindbare Hürde.»

Die Orthografie betont soziale Unterschiede, aber auch Legastheniker leiden sehr darunter. Und für Personen aus einer anderen Sprache ist sie eine kaum überwindbare Hürde.
Autor: Andreas Dutoit Marthy Sprachwissenschafter, Westschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz

Die neue Rechtschreibung gibt es im Französischen seit 1990. Ob sie sich durchgesetzt hat, ist umstritten. In den Wörterbüchern ist die klassische Schreibweise die Norm, die neue Rechtschreibung wird als Variante aufgeführt.

Neue Lehrmittel in der Romandie als Auslöser

Das wollen die Westschweizer Erziehungsdirektoren jetzt umkehren: Die «Orthographe rectifiée» soll die Norm werden, die klassische Schreibweise die Toleranz. Anlass ist eine Erneuerung der Französisch-Lehrmittel, die in der Westschweiz vorbereitet wird.

Ab 2023 soll in erster Linie die neue Rechtschreibung gelehrt werden, so wie etwa im französischsprachigen Teil Belgiens oder auch in Frankreich seit fünf Jahren, zumindest in gewissen Lehrmitteln. Im frankofonen Teil Kanadas unterscheiden sich die Regeln je nach Bundesstaat.

Wenn Schülerinnen und Schüler auf hohe Hürden stossen, muss man ihnen die Mittel geben, diese zu überwinden. Alles andere ist Sozialismus.
Autor: Jean Romain Philosopieprofessor, Autor, Grossrat (FDP/GE)

Davon hält der Genfer FDP-Grossrat Jean Romain gar nichts. Er unterrichtete drei Jahrzehnte lang Philosophie, ist Autor von über 25 Büchern. Für ihn ist der Ansatz der Vereinfachung falsch: «Wenn Schülerinnen und Schüler auf hohe Hürden stossen, muss man ihnen die Mittel geben, diese zu überwinden. Alles andere ist Sozialismus.»

Um die Rechtschreibung ist ein politischer Kampf entbrannt. In Genf und im Jura haben sich vorerst die Bürgerlichen durchgesetzt und Vorstösse gegen die Einführung der neuen Rechtschreibung überwiesen. Eine Petition dagegen erhielt bislang 5000 Unterschriften. Die Gegnerinnen und Gegner sind sogar bereit, eine Volksinitiative zu lancieren – mit einer zweiten Initiative gegen gendergerechte Sprache.

«Académie Française» ohne klare Linie

Eine weitere Eigenheit der französischen Sprache ist die Institution der «Académie Française» – seit Jahrhunderten die Hüterin der französischen Sprache. Sie arbeitete an der neuen Rechtschreibung mit, äusserte sich aber später kritisch zur verordneten Einführung.

Jede Seite interpretiert diesen Umstand ihre Weise: Gegner Jean Romain fühlt sich bestätigt, weil die «Académie» nie zum Zwang aufrief: «Es soll Toleranz herrschen, aber auf keinen Fall eine Pflicht.»

Ausgang völlig offen

Dem stimmt Dutoit Marthy zwar zu, legitimiert aber dennoch die Vorgehensweise der Bildungsdirektoren: «Im Sinn der ‹Académie› sollte sich die neue Orthografie im Gebrauch bewähren und nicht per Dekret. Das stimmt schon. Aber kann die Schule darauf warten, bis sich alles im Gebrauch bewährt hat?»

Kann die Schule darauf warten, bis sich alles im Gebrauch bewährt hat?
Autor: Andreas Dutoit Marthy Sprachwissenschafter, Westschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz

Sollten sich die Bildungsdirektoren durchsetzen, dürfte künftig auch an Deutschschweizer Schulen die «Orthographe rectifiée» gelten. Ob es dazu kommt, ist aber völlig offen.

Die «Orthographe rectifiée» mit Beispielen

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Die neue französische Rechtschreibung wurde bereits 1990 vorgestellt. Mit ihr ändert sich die Schreibweise von mehr als 2000 Wörtern auf Französisch:

  • Kein «Accent circonflexe» mehr über i und u, wo er nicht nötig ist: boite anstatt boîte, croute anstatt croûte. Er bleibt nur da bestehen, wo der Sinn des Wortes verändert wird: Le fruit mûr est tombé près du mur. (Die reife Frucht ist nahe der Mauer gefallen).
  • Das «Tréma» wird auf jenem Buchstaben geschrieben, auf dem auch die Betonung im Wort liegt. Zum Beispiel: aigüe (spitz), anstatt aiguë, oder ambigüité anstatt ambiguïté.
  • Bei Zahlen gilt neu generell ein Bindestrich. Anstatt Vingt et un (21) wird neu vingt-et-un geschrieben, anstatt Un million cinquante-six (1'000'056) gilt neu Un-million-cinquante-six.

Rendez-vous, 20.10.2021, 12:30 Uhr

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