Was in Bondo im Bergell passiert ist, kann auch anderen Orten in der Schweiz drohen. Viele Gemeinden sind zwar theoretisch auf Naturgefahren vorbereitet, denn inzwischen gibt es für praktisch jeden Ort Gefahrenkarten. Vielerorts wurden auch Dämme und Überlaufbecken gebaut, die Schutz bieten sollen.
Aber es lassen sich nicht alle Naturgefahren bändigen mit Beton, Dämmen oder technisch noch so ausgefeilten Schutzbauten. Manchmal sei die Natur stärker als jede Schutzbaute, sagt Josef Eberli. Er leitet im Bundesamt für Umwelt (Bafu) die Abteilung Gefahrenprävention .
Mensch muss der Natur weichen
Für ihn ist klar: Der Mensch muss der Natur künftig wieder vermehrt ganz einfach aus dem Weg gehen: «Bis vor 150 Jahren konnte man nichts anderes, als der Gefahr ausweichen. Heute geht es darum, dieses alte Prinzip wieder aufzunehmen und zu respektieren, dass man dort, wo eine Restgefährdung besteht, diese nicht mit Überbauungen oder anderen Nutzungen überstellt.»
Eine Restgefährdung besteht dann, wenn Dämme überlaufen, Sammelbecken aufgefüllt werden und sich Wasser- und Geschiebe-Massen ihren eigenen Weg suchen. Um diese «natürlichen Routen» geht es dem Naturgefahren-Experten Eberli: Man muss sie freihalten.
Bafu: Raumnutzung und Gefahrenkarten
Ein Beispiel ist der Secklisbach im Engelbergertal bei Wolfenschiessen (NW). Ein Bergbach wie hunderte andere, der aber zum tosenden Ungetüm werden kann: Wie 2005, als der Secklisbach nach einem heftigen Unwetter 35'000 Lastwagen-Ladungen Geröll ins Tal schwemmte. Die Anwohner entgingen nur knapp einer Katastrophe. Nach dem Unwetter kam der zweite Schock: Auch neue Schutzbauten boten keinen vollen Schutz gegen ein Unwetter wie 2005 – der Mensch musste weichen.
«Man hat die Industriezone ausgezont, die noch nicht überbaut war. Und man hat ein Wohnhaus in die Bauzone umgesiedelt, um den Raum freizubekommen», erklärt Eberli. Freier Raum für den Bergbach, ohne Menschen und ihre Häuser.
Eberli war damals als Nidwaldner Kantonsingenieur am Projekt beteiligt. Heute treibt er beim Bafu seine Vision voran: Überall im Land müssen solche Korridore für Jahrhundert-Ereignisse frei bleiben. Nur in sehr wenigen Einzelfällen müssten Häuser aufgegeben werden, sagt Eberli. Oft könnte lediglich bestehendes Bauland ausgezont werden.
Anspruch auf eine Entschädigung haben Bauland-Besitzer selten: Meist nur dann, wenn ihr Land wegen künstlicher Massnahmen zum Gefahrengebiet wird, wenn also Dämme oder andere Schutzbauten Wassermassen auf ein betroffenes Landstück umleiten.
Weniger Beton, mehr Freiflächen
Trotzdem erwartet Eberli kaum Konflikte: Meist führten die Abfluss-Korridore über Landwirtschaftsgebiet, und dieses könnten Bauern weiterhin normal bewirtschaften. Kleinere Einschränkungen gebe es aber auch für sie, denn je nach Situation dürfen die Bauern keine allzu dicht wachsenden Kulturen anpflanzen:
«Eine Schwierigkeit besteht bei grossen Mais- oder Hopfen-Plantagen. Wenn ein grosser Teil des Abflusskorridors eingeengt wird, kann es auch dort Einschränkungen geben.» Denn ein Feld etwa mit stämmigen Mais-Pflanzen könne Wasser, Gestein und Schwemmholz aufstauen.
Bund drängt auf Gefahrenkorridore
Noch haben längst nicht alle Kantone und Gemeinden in ihrer Raumplanung Korridore für extreme Hochwasser oder Murgänge festgelegt. Eine detaillierte Übersicht über die Schweiz gibt es noch nicht. Der Bundesrat drückt darum jetzt aufs Tempo: Er will die Kantone per Gesetz verpflichten, solche Korridore einzurichten und freizuhalten. Das Parlament muss dem noch zustimmen.
In 10 bis 15 Jahren könnte diese Umsetzung geschafft sein, erwartet der Naturgefahren-Experte Josef Eberli: «So müssten wir volkswirtschaftlich nicht dauernd die potenzielle Schadensumme erhöhen und dann immer wieder neu investieren in zusätzliche Schutzbauen.»