SRF News: Wie explosiv ist die Lage in Kosovo heute noch - knapp 17 Jahre nach dem Krieg?
Walter Müller: Explosiv ist sie nicht mehr, aber sehr unberechenbar. Das Alltagsleben in Kosovo ist wohl stabil, die politischen Institutionen sind es aber nicht. Neuerdings hängt zudem das sogenannte Sondertribunal wie ein Damokles-Schwert über Kosovo. Nächstes Jahr soll es die Arbeit zur Aufklärung von Kriegsverbrechen aufnehmen. Niemand weiss heute, wie viele und welche Regierungspolitiker angeklagt werden. Auch das verbreitet ein grosses Gefühl von Unsicherheit und Instabilität.
Sind die Swisscoy-Soldaten, die die Nato unterstützen, eine Art Sicherheitsgarantie für die Leute in Kosovo?
Ja, unbedingt. Denn wenn sich die Bevölkerung nicht auf den Staat verlassen kann, fühlen sich die Menschen unsicher und ungeschützt. In Gesprächen habe ich oft festgestellt, dass letztlich die KFOR das Sicherheitsgefühl in Kosovo vermittelt. Sie ist aber erst die dritte Instanz, die im Krisenfall für Sicherheit sorgt. Denn wenn ein Konflikt ausbricht, rückt als erste die Kosovo-Polizei aus. Wenn sie überfordert ist, folgt die internationale Polizei, also die Rechtsmission der EU-Staaten EULEX. Und erst ganz zuletzt – wenn alle Stricke reissen – greifen dann auch die Soldaten der KFOR ein.
Korruption ist das Gift, das sich überall festgesetzt hat.
Warum kann nicht der Staat Kosovo die Sicherheit der Menschen garantieren?
Das hat vor allem damit zu tun, dass Kosovo politisch völlig blockiert ist. Regierung und Opposition sind polarisiert und können sich über nichts einigen. Im Parlament wurde sogar Tränengas eingesetzt. Die Justiz ist noch nicht unabhängig, kann ihre Arbeit nicht erfüllen, daher haben die Leute auch nicht das Gefühl, in einem Rechtsstaat zu leben. Korruption ist das Gift, das sich überall festgesetzt hat. Oder die eigene Armee: Kosovo hat eine Art Zivilschutz, dem auch ehemalige UÇK-Kämpfer angehören. Er wurde im Verlauf der Jahre von der Nato ausgebildet und sollte längst zur Armee werden, was die Politiker der serbischen Minderheiten in Kosovo jedoch verhindern. Denn der Nachbarstaat Serbien will keinesfalls, dass Kosovo eine eigene Armee bekommt. Es gibt also ganz viele Faktoren, die das Unsicherheitsgefühl in Kosovo bestärken.
Gerade die Schweizer Soldaten geniessen in Kosovo grosses Vertrauen.
Stehen also alle Leute in Kosovo hinter der Friedensförderung der KFOR und damit der Swisscoy?
Im Grossen und Ganzen ja. Gerade die Schweizer Soldaten geniessen in Kosovo grosses Vertrauen, denn sie kommen ja von dort, wo viele Verwandten der Kosovo-Albaner leben. Das gibt Zusammengehörigkeit. Interessant ist auch, dass die Serben in Kosovo keinesfalls auf die KFOR verzichten wollen, obwohl Serbien zu Beginn total gegen die Mission war. Jetzt aber gilt die KFOR als Sicherheitsgarantie für die serbische Minderheit, sollte es dann irgendwann wieder einmal zu Spannungen zwischen den Kosovo-Albanern und den Serben kommen.
Zu Beginn hatte die KFOR 50‘000 Leute in Kosovo stationiert. Heute sind es noch etwa 5000. Künftig soll es nur noch rund die Hälfte sein. Wäre es daher nicht sinnvoll, wenn auch die Schweiz ihre Mission etwas verkleinern würde?
Verkleinern kann man wohl schon ein wenig. Aber wenn die Swisscoy im Rahmen der KFOR ihre Aufgabe wegen Personalmangel nicht mehr erfüllen könnte, wäre eine Schmerzgrenze erreicht. Dann würde der Einsatz tatsächlich keinen Sinn mehr machen.
Hat sich der Swisscoy-Einsatz in den letzten 17 Jahren verändert?
Zu Beginn habe ich die Swisscoy-Soldaten noch beim Bau von Schulhäusern gesehen. Heute ist aber das sogenannte Monitoring viel wichtiger. Monitoring heisst, dass die Soldaten in Nord-Kosovo, wo die Mehrheit der serbischen Bevölkerung lebt, durch die Stadt oder die Dörfer patrouillieren und mit den Menschen diskutieren. Sie beobachten auch und fühlen mit. In diesem Sinn sind die Swisscoy-Soldaten die Frühwarn-Antennen für die KFOR-Führung. Die Swisscoy-Leute erfahren direkt, wo der Schuh drückt.
Das Gespräch führte Simon Leu.