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Fürsorgerische Unterbringung Zwangseinweisung: Psychiatrie hält Vier-Augen-Prinzip für unnötig

Der Fachverband der Psychiatrie glaubt, dass mehr Prävention die fürsorgerische Unterbringung besser eindämmen könnte.

16'000 Menschen in der Schweiz landen pro Jahr unfreiwillig in der Psychiatrie. Die Stiftung Pro Mente Sana kritisierte kürzlich die hohe Zahl dieser fürsorgerischen Unterbringungen (FU), forderte mehr Zurückhaltung und zwingend das Vier-Augen-Prinzip bei Einweisungen. Die gängige Praxis mit der Einweisung durch einen Arzt oder eine Ärztin sei nicht das Problem, widerspricht Rafael Traber vom nationalen Verband der Psychiatrie und Psychotherapie.

Rafael Traber

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Rafael Traber ist Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) sowie ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Dienste im Kanton Tessin.

SRF News: Wie beurteilen Sie die Zahlen der fürsorgerischen Unterbringung?

Rafael Traber: Die Zahl ist unzweifelhaft hoch und bedeutet, dass im Schnitt jeden Tag 40 hochakute psychiatrische Notlagen eine fürsorgerische Unterbringung erfordern. In der Regel kümmern sich Psychiaterinnen oder Ärzte zusammen mit Pflegekräften, Ambulanzteams und Polizei um die Betroffenen. In die schwierige Situation sind häufig Angehörige involviert. Die Lösung ist manchmal nur eine Einweisung – auch gegen den Willen der Betroffenen – die natürlich möglichst fürsorglich ablaufen muss.

Wenn sich niemand um diese akuten psychiatrischen Situationen kümmern würde, wären die Folgen vielleicht noch schlimmer.

Wenn sich niemand um diese akuten psychiatrischen Situationen kümmern würde, wären die Folgen vielleicht noch schlimmer. Das alles bedeutet aber nicht, dass auch unser Fachverband die Zahlen als zu hoch beurteilt und es Anstrengungen braucht, um diese zu reduzieren. Das kann aber nicht im Moment der Akutsituation geschehen, sondern müsste über eine verstärkte Prävention erfolgen.

Ist also jeder Fall einer fürsorgerischen Einweisung gerechtfertigt?

Das kann ich nicht hundertprozentig sagen. Wenn die Patienten so leiden oder sich oder andere gefährden, ist das wohl die richtige Lösung. Wie angesprochen: Vielleicht gäbe es in den Tagen oder Monaten zuvor Möglichkeiten, damit diese Menschen nicht in eine derartige Dekompensation geraten. Häufig geht es um Intoxikation und man fragt sich schon, warum so viele Menschen mit Vergiftungen durch Alkohol oder anderen Substanzen auf den Notfall kommen. Hier bräuchte es viel niederschwellige Prävention.

Das Vier-Augen-Prinzip ist schwer umsetzbar und sehr aufwendig, denn die Verantwortungen würden vermischt.

Was halten sie von der Forderung nach dem Vier-Augen-Prinzip?

Das Vier-Augen-Prinzip ist schwer umsetzbar und sehr aufwendig, denn die Verantwortungen würden vermischt. Die Betroffenen müssten warten, bis eine zweite Person aufgeboten ist. Dazu bräuchte es einen Pikettdienst in jedem Kanton.

Es ist also auch ein finanzieller Aufwand, dessen Mehrwert ich nicht als gross einschätze. Heute ist nach Gesetz für eine FU eine qualifizierte Person verantwortlich. Das ist immer ein Arzt, der das Prozedere kennt. Zugleich wird der Patient oder die Patientin aufgeklärt und eine nahestehende Person informiert.

Die Schweiz macht sehr viel für die psychische Gesundheit der Menschen. Es gibt sehr viele gute Angebote.

Sie betonen die Bedeutung der Prävention. Tut die Schweiz hier zu wenig?

Die Schweiz macht sehr viel für die psychische Gesundheit der Menschen. Es gibt sehr viele gute Angebote. 

Es gibt sicher Lücken. Das zeigen Studien zur Schweiz im Bereich der Krisen- und Notfallintervention sowie im Bereich der schwerkranken Patientinnen und Patienten auf gewissen Gebieten. Da könnten die Kantone die Lage sicher etwas verbessern.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF 4 News, 22.11.2022, 09:45 Uhr ; 

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