Als Maxsym Kalinin am 24. Februar 2022 um 5 Uhr morgens in Hostomel bei Kiew aufwachte, flogen ihm die Fenster um die Ohren: «Die Luft war voller russischer Flugzeuge und Helikopter», erinnert sich der ukrainische Familienvater an den ersten Tag der russischen Invasion.
Kalinin und seine Frau wohnten in Sichtweite des Flughafens. Sie packten den einjährigen Sohn und das Nötigste und flohen zu Freunden nach Genf. Zurück blieben rauchende Trümmer. «Unsere Wohnung wurde komplett zerstört.»
In Genf gelang es Kalinin, seine Ausbildung als Ingenieur anerkennen zu lassen, er bildete sich weiter und lernte Französisch von null auf. «Als ich in Genf ankam, konnte ich nur ‹bonjour› und ‹au revoir› sagen.» Heute hat er ein Diplom B2 für Fortgeschrittene.
Was er aber nicht geschafft hat, ist, einen Job zu finden. Und das frustriert. Er überlege sich ernsthaft nach Dubai weiterzuziehen, sagt er. Dort boomt die Bauwirtschaft – und es gebe weniger bürokratische Hindernisse.
In der Schweiz hat es drei Jahre gedauert, bis ich mich einigermassen integriert gefühlt habe.
Auch die Landschaftsarchitektin Valeria Synelnykova aus Kiew hat in der Schweiz keinen Job gefunden. Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum RAV habe ihr in anderthalb Jahren kein einziges Angebot gemacht. Also habe sie selbst nach Arbeit gesucht – ohne Erfolg.
Auch der Ökonom Vladimir Yefimov, der aus gesundheitlichen Gründen die Ukraine verlassen durfte, ist seit drei Jahren nur ehrenamtlich tätig. Als er vor dem Krieg in London arbeitete, habe er binnen eines Jahres einen Job gefunden. «In der Schweiz hat es drei Jahre gedauert, bis ich mich einigermassen integriert gefühlt habe.»
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Bild 1 von 3. Der Ingenieur Maxsym Kalinin ... Bildquelle: Berner Fachhochschule.
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Bild 2 von 3. die Landschaftsarchitektin Valeria Synelnykova aus Kiew ... Bildquelle: ZVG.
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Bild 3 von 3. und der Ökonom Vladimir Yefimov: Sie alle kamen mit guten Qualifikationen in die Schweiz. Nun stehen sie vor einer ungewissen Zukunft – beruflich und auch, was eine allfällige Rückkehr in die Ukraine angeht. «Wir leben mit dieser Situation und versuchen, für jede Herausforderung gewappnet zu sein», sagt Yefimov. Bildquelle: ZVG.
Ein Grund sei der Schutzstatus S, vermutet Maxsym Kalinin. Er gilt vorläufig noch bis im März 2026. Falls er dann ausläuft, haben die ukrainischen Geflüchteten noch ein Jahr Zeit, bis sie das Land verlassen müssen – eine zu unsichere Perspektive für Arbeitgeber. Manche Firmen in der Schweiz seien mit dem Schutzstatus S wenig vertraut, und Zehntausende pendelten jeden Tag aus dem benachbarten Frankreich nach Genf, sagt Kalini.
Kalinin, Synelnykova und Yefimov haben sich an der Fachhochschule Bern kennengelernt. Sie alle absolvierten ein Certificate of Advanced Studies (CAS) mit dem Titel «Rebuild Ukraine».
In diesem Kurs habe er das erste Mal seit der Flucht aus der Ukraine das Gefühl erhalten, auf seinem beruflichen Niveau zu arbeiten, sagt Yefimov. «Als ich vor drei Jahren in die Schweiz kam, bin ich in der sozialen Hierarchie buchstäblich abgestürzt.»
Das Leben nach dem Überleben
Die Idee des Kurses sei, ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz für den Wiederaufbau des Landes zu qualifizieren, sagt Jacques Gerber, der Delegierte des Bundesrats für die Ukraine. «Für den Wiederaufbau der Ukraine braucht es Ressourcen – dazu gehört eine gute Ausbildung.»
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Bild 1 von 2. 67'000 geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer leben in der Schweiz. Sie haben überlebt und sind in einem reichen Land in Sicherheit – und dankbar dafür. Aber nur ein Drittel von ihnen hat eine Stelle, obwohl viele gut qualifiziert sind. Bildquelle: Keystone/Peter Schneider.
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Bild 2 von 2. Am Mittwoch hat sich der Bundesrat ein neues Integrationsziel gesetzt: bis Ende Jahr soll jede zweite aus der Ukraine geflüchtete Person, die seit mindestens drei Jahren in der Schweiz lebt, einer Arbeit nachgehen. Bild: Referat am CAS «Rebuild Ukraine». Bildquelle: Keystone/Christian Beutler.
Aber nicht einmal eine Handvoll der 24 Absolventinnen und Absolventen dieses Kurses haben eine Stelle in der Schweiz. Der Kurs solle eine künftige Rückkehr erleichtern, hält Gerber dagegen. «Die Leute werden zurückkehren, wenn sie einen Job, eine Zukunft in der Ukraine haben.»
Doch im Moment sieht es nicht nach einem Ende des Krieges aus. Die Zukunft sei ein Rätsel, sagt Yefimov. Was die 24 gut ausgebildeten Absolventen des Kurses «Rebuild Ukraine» hier in der Schweiz am meisten frustriert, ist, dass es so schwierig ist, einen Job zu finden. Überleben in einem sicheren Land ist das eine, und dafür sind sie dankbar. Aber irgendwann, nach dem Überleben, beginnt das Leben wieder.