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Gegen das Vergessen Die nächste Generation steht Red und Antwort

Wie hält man die Erinnerung an den Holocaust aufrecht? Zum Beispiel mit Gesprächen mit Nachfahren von Tätern und Opfern.

Knapp 400 Zuhörerinnen und Zuhörer sind am Mittwochabend in den Hörsaal der Universität Genf gekommen. Vorne sitzen zwei ältere Frauen und zwei Männer: Barbara Brix und Ulrich Gantz, beide Nachfahren von Nazis.

Daneben: Jean-Michel Gaussot und Yvonne Cossu, deren Väter sich im Widerstand in der französische Résistance engagiert hatten, und deswegen deportiert und getötet wurden. Cossu war acht Jahre alt, als ihr Vater verhaftet wurde. Er verstarb unmittelbar vor Kriegsende im Konzentrationslager Neuengamme nahe von Hamburg.

Universität von Genf, Fassade
Legende: Die nächste Generation: An der Universität Genf haben zwei Nachfahren von getöteten Widerstandskämpfern mit zwei Nachfahren von Nazis miteinander diskutiert. Keystone

Das weckte bei Yvonne Cossu Abscheu. Lange wollte sie deswegen nichts von Deutschland wissen, sagt die 84-jährige Französin. «Ich hatte einen furchtbaren Hass, ich weigerte mich, Deutsch zu lernen. Erst als erwachsene Frau konnte ich akzeptieren, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Das war ein Fortschritt. Aber ich ging erst im Alter von 60 Jahren nach Deutschland.»

Verschiedene Verhältnisse zum Vater

An einem Anlass bei der Gendenkstätte des KZ Neuengamme traf sie 2009 auf Gaussot, Brix und Gantz. Nazi-Nachfahrin Brix hatte eine andere Beziehung zu ihrem Vater als Cossu. Sie lernte ihn erst im Alter von sechs Jahren kennen, als er vom Krieg nach Hause kam. Obwohl sie noch Jahrzehnte mit ihm verbringen konnte, stellte sie ihm kaum Fragen zum Krieg, sagt die heute 78-jährige Hamburgerin. Er sass in einem Rollstuhl, er hatte keine Beine mehr.

«Es wäre ein Grund gewesen, ganz kindlich-naiv zu fragen, wo sind denn deine Beine geblieben? Aber nicht einmal diese unschuldige Frage habe ich gestellt, geschweige denn Fragen, die sich mit Schuld und Verbrechen beschäftigt hätten.» Die Nazi-Vergangenheit deckte sie erst nach dem Tod des Vaters auf, wie Gantz auch. Es zeigte sich: Beide Väter waren Mitglieder der Einsatzgruppen im Osten, die hinter der Frontlinie in der Sowjetunion nachrückten und Juden, Kommunisten, Behinderte und Zigeuner töteten.

Steinmeier legt einen Krank nieder.
Legende: 75 Jahre nach Befreiung von Auschwitz sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: «Wir werden heute neue Formen des Gedenkens finden müssen für eine junge Generation, die fragt, was hat diese Vergangenheit mit mir, mit meinem Leben zu tun.» Reuters

Dass ihre Väter für die Ermordung Tausender Menschen mitverantwortlich waren, ist für sie bis heute schwierig zu verstehen. Aber gerade wegen dieser Last sehen sich Brix und Gantz in der Pflicht, immer wieder darüber zu reden, auch wenn das bei einem Teil von Gantz' Familie auf Ablehnung stösst.

Er sagt dazu: «Für mich ist es ein Akt des Respekts diesen Opfern und den Vätern von Yvonne und Jean-Michel gegenüber, die ihr Leben gelassen haben, offen und ehrlich darüber zu reden.» Diese Haltung hilft auch den Nachfahren aus Frankreich, ihre Abscheu gegenüber Deutschland zu überwinden. «Ich hätte mir früher nie vorstellen können, mit Nachfahren von Nazis befreundet zu sein. Aber sie sind nicht verantwortlich für die Taten ihrer Väter. Dass sie den Mut haben, darüber zu sprechen, finde ich bewundernswert», so Cornu.

Die UNO unterstützt die Gespräche

Dass diese Nachfahren in Genf sprachen, ist auf den Verein CICAD zurückzuführen, der seit 30 Jahren in der Westschweiz gegen Antisemitismus kämpft. Und auch die UNO unterstützt diese Gespräche mit der zweiten Generation. Antisemitismus sei auch heute noch ein Problem, sagt der Generalsekretär des Vereins, Johanne Gurfinkiel: «Schauen Sie die Lage in Frankreich, in England, in Belgien oder Deutschland an. Überall nimmt Gewalt gegenüber Juden zu. (...) Auch für die Schweiz sind wir beunruhigt.»

Die CICAD will deshalb das Programm sogar ausbauen – damit die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz weiterhin diskutiert werden.

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