Es ist eine Tendenz, die aufhorchen lässt: In der Schweiz nimmt die Gewalt gegen Frauen zu. Noch nie wurden so viele Frauen Opfer häuslicher, sexualisierter Gewalt wie aktuell. In diesem Jahr wurden laut dem Rechercheprojekt «Stop Femizid» bereits 15 Frauen durch Femizide getötet. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr gab es laut der Organisation hierzulande 20 Femizide.
Die Täter sind oft Männer aus dem familiären Umfeld der Frauen – wie Partner, Ex-Partner oder Bekannte.
Eine, die in ihrem Leben extreme Gewalt durch den Ex-Partner erlebt und überlebt hat, ist Nicole Dill. Die Luzernerin kämpft seit über 15 Jahren für mehr Schutz für die Frauen. «Ich habe es überlebt, damit ich für die Opfer kämpfen kann, ihnen ein Gesicht geben kann und sagen kann: Da läuft in der Schweiz gewaltig etwas schief», sagt Dill.
Unwissend einen Mörder als Partner
Der Fall von Dill ist eines der grausamsten Verbrechen der Schweiz. Im September 2007 will sie sich von ihrem damaligen Partner trennen. Dieser will das nicht wahrhaben, dringt in ihre Wohnung ein, greift sie an und versucht sie mit drei Schüssen aus seiner Armbrust zu töten. Was Nicole Dill nicht wusste: Ihr Freund sass zuvor mehrere Jahre wegen Mordes im Gefängnis. Als er sie kennenlernte, war er zwar entlassen, aber nur unter strengen Auflagen.
Nicole Dill schöpft Verdacht, dass mit ihrem Freund etwas nicht stimmt und erkundigt sich bei der Polizei. Diese weiss, dass er gefährlich ist, darf ihr das aber nicht sagen, wie aus den Gerichtsakten hervorgeht: «Aus Datenschutzgründen war es mir natürlich nicht möglich, sie über Details von früheren Delikten des Täters zu informieren.»
Nach einem langen Kampf durch alle Instanzen hat Dill in diesem Frühjahr Recht bekommen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält fest: Man hätte sie warnen müssen und die Schweiz tue zu wenig für die Opfer von Gewalt. «Das Urteil hat bei meiner Anlaufstelle für Gewaltopfer einen kleinen Tsunami ausgelöst. Ich habe viele Reaktionen von Leuten bekommen, die extrem froh über das Urteil waren», sagt Dill.
Sie fordert jetzt, dass bereits bei der Prävention mehr gemacht werde. Das Schweizer System reagiere zu oft erst, wenn etwas passiert sei. «Es kann nicht sein, dass man wartet, bis es Opfer gibt, da muss man viel früher anfangen», so Dill. So solle auch die Polizei für das Thema Femizid sensibilisiert werden.
Fachleute sind besorgt
In diesem Jahr gab es bereits viele Opfer häuslicher Gewalt: etwa in Epagny, Bülach und Emmenbrücke. Die Zunahme der Fälle bereitet Fachleuten Sorge. Agota Lavoyer ist Expertin für häusliche Gewalt, leitet Workshops und schreibt Bücher zum Thema. «Ich bin stark beunruhigt. Bereits jetzt haben wir sehr hohe Femizid-Zahlen.» Diese seien doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor. «Gleichzeitig sehen wir eine Normalisierung. Es gibt kaum einen Aufschrei in der Gesellschaft», so Lavoyer.
Dabei gäbe es politisch konkrete Massnahmen, die helfen würden. «Es geht um finanzielle Ressourcen für den Opferschutz, für Täterarbeit und um Prävention an den Schulen», sagt die Expertin. Die Kinder sollen dabei sensibilisiert und aufgeklärt werden.
Nicole Dill hat mittlerweile privat die Anlaufstelle «Sprungtuch» für Gewaltopfer und deren Angehörige gegründet. Wichtig sei: «Nicht einfach warten, sondern genug früh aktiv werden und zur Polizei gehen.» Ihr eigener Fall liegt 17 Jahre zurück. Verhindern, dass andere dasselbe erleben müssen, ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.