Berichte über Gewalt an Schulen häufen sich. In Luzern prügelt ein 17-jähriger Schüler seine Lehrerin spitalreif, ein anderer zieht im Kanton Zürich eine Bandenstruktur auf und terrorisiert eine ganze Schule, ein 6-Jähriger begrüsst seine Lehrerin mit Grüezi Frau «Figg Di Litsch». Eine Studie aus Deutschland zeigt zudem, dass über 53 Prozent der Lehrer unter 40 Jahren nicht über dieses Thema sprechen möchten. Beat Zemp, oberster Lehrer der Schweiz, fordert eine offene Diskussion.
SRF News: Gewalt gegen Lehrer ist offenbar ein Tabuthema. Ist die Dunkelziffer in der Schweiz höher als man denkt?
Beat Zemp: Ich kann mir vorstellen, dass es bei einer Umfrage, wie wir das vorgesehen haben, vergleichbare Resultate wie in Deutschland geben wird. Aber das Ausmass verbale oder tätlicher Gewalt kennen wir nicht.
Was erhoffen Sie sich von der Untersuchung?
Einerseits wollen wir Zahlen haben, wie viele Schulen betroffen sind und wie viele Fälle es gibt.
Es gibt problematische familiäre Verhältnisse, bei denen den Kindern keine Grenzen gesetzt werden und die Kinder keinen Respekt gegenüber den Eltern haben.
Bei einer Umfrage vor 15 Jahren stellten tätliche Angriffe eine absolute Ausnahme dar. Nun haben wir in den letzten Monaten eine Häufung solcher Fälle gesehen. Wir möchten das Thema enttabuisieren.
Wie erklären Sie sich diese Wut, diese Aggressionen und offensichtlich auch den mangelnden Respekt vor Lehrpersonen?
Zum einen gibt es problematische familiäre Verhältnisse, bei denen den Kindern keine Grenzen gesetzt werden und die Kinder keinen Respekt gegenüber den Eltern haben. Das setzt sich dann in der Schule fort. Zum anderen, das macht mir mehr Sorgen, ist das Thema Aggression in unserer Gesellschaft positiv konnotiert.
Denken Sie an den Sport: Wenn ein Fussballverein verliert, ist er zu wenig aggressiv gegen den Gegner aufgetreten. Auch in der Wirtschaft muss man aggressiv am Markt auftreten. Ebenso in Filmen und im Internet, wo Gewalt permanent vorhanden ist. All das hat eine Wirkung auf die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen.
Welche Folgen sehen Sie für die berufliche Zukunft solcher problematischer Schüler?
Wenn tätliche Angriffe vorkommen, muss die Jugendanwaltschaft eingeschaltet werden, allenfalls auch die Kesb. Das macht man aber erst, nachdem alle Möglichkeiten wie Schulsozialarbeit oder auch Kriseninterventions-Teams ausgeschöpft wurden.
Die Fälle, die wir besprochen haben, sind vor allem verhaltensauffällige Schüler, die von der geistigen oder körperlichen Verfassung her völlig normal sind.
Es gibt aber Fälle, bei denen es nicht mehr geht. Das sind tätliche Angriffe und gehören vor das Jugendstrafgericht.
Ist die Idee von integrierten Klassen gescheitert und braucht es möglicherweise wieder Sonderklassen?
Die Idee der Integration ist gut. So viel Integration wie möglich – aber eben auch so viel Separation wie nötig. Man kann nicht alle in eine Regelklasse integrieren. Es geht aber nicht nur um Schülerinnen und Schüler mit besonderen Lernbedürfnissen, sondern auch um Verhaltensauffällige. Die Fälle, die wir besprochen haben, betreffen vor allem verhaltensauffällige Schüler, die von der geistigen oder körperlichen Verfassung her völlig normal sind. Das macht uns Sorgen.
Gibt es eine Möglichkeit, diese Schüler zu separieren?
Ja wir haben etwa zehn Jahre Erfahrung mit dem Konzept des Time-Outs, das für schwierige Fälle gedacht ist. Es gibt auch neue Konzepte wie die Schul-Insel. Schüler können dort eine Lektion oder einen Vormittag verbringen. Dort werden sie von Sozialarbeitern und Lehrpersonen betreut und bekommen gezielt Hilfe. Sie sind weg von der Klasse und man kann den Unterricht in Ruhe fortsetzen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.