Aline Trede wurde 2019 in den Nationalrat wiedergewählt und ist heute Präsidentin der Grünen Fraktion. «Die grüne Welle war sehr wichtig: Das Parlament wurde verjüngt und urbaner», stellt sie fest. Allerdings reiche das nicht – weil die Mehrheit noch immer bürgerlich sei. Diese Aussage bringt die Konstellation im Parlament bestens auf den Punkt.
Vor dem Volk sind es die bürgerlichen Mehrheiten, die Erfolg haben.
Auch Philipp Bregy, Präsident der Mitte-Fraktion, sieht ein Umdenken vor allem bei den Wählerinnen und Wählern. Aber: «Im Parlament ist die grüne Welle noch wenig sichtbar.» Die Schweizer Politik habe eine «grundbürgerliche» Konzeption und Mehrheit. «Das ist auch wünschenswert. Denn vor dem Volk sind es die bürgerlichen Mehrheiten, die Erfolg haben», sagt Bregy.
Die politische Mitte macht's aus
Die grüne Welle zerbrach im Parlament also an der Mitte, die sich hin zu FDP und SVP bewegte und nicht nach links. Dabei war gerade auf links-grüner Seite die Hoffnung nach den letzten Wahlen gross, dass eine neue Mitte-Links-Mehrheit der Legislatur den Stempel aufdrücken könnte. Doch das sei nicht passiert, stellt SP-Präsident Cedric Wermuth fest.
Die Rechte versucht, eine Offensive für tiefere Steuern und Deregulierung zu lancieren.
Zwar habe es Bewegung in der Politik gegeben, er denke da an den Vaterschaftsurlaub oder die Ehe für Alle. Doch was die Wirtschafts- und Steuerpolitik angehe, habe Mitte-Links nichts zu bestellen. «Es gibt einen neuen Versuch der Rechten, eine Offensive für tiefere Steuern und Deregulierung zu lancieren», so Wermuth.
Die Legislatur zeichnet sich bisher also aus durch eine progressivere Politik bei gesellschaftspolitischen Fragen und einzelne Fortschritte in der Umweltpolitik – trotz des Scheiterns des CO2-Gesetzes. Aber eben auch durch einen bürgerlichen Schulterschluss bei Steuervorlagen oder der AHV: Diese Analyse teilt auch der Präsident der FDP-Fraktion, Beat Walti.
Und dann war da noch Corona
Zudem hätten mit dem Nein zum CO2-Gesetz die grünen Parteien auch etwas die kommunikative Hoheit über die Klimafrage verloren, sagt Walti. Es werde immer klarer, dass die anstehenden klimapolitischen Entscheide auch wirtschaftliche Auswirkungen hätten. Deshalb: «Es wird interessant sein zu sehen, wie man hier die Kurve kriegt.»
Es wird interessant sein zu sehen, wie man bei Klima- und Umweltschutz die Kurve noch kriegt.
Und: Die grüne Welle wurde plötzlich von einer ganz anderen Welle überlagert – der Corona-Pandemie. Damit wurde nicht nur die Klimafrage an den Rand gedrängt, die Coronakrise erschwerte speziell den grünen Fraktionen die Parlamentsarbeit, weil es den zahlreichen Neuen viel schwerer fiel, in der Parlamentsarbeit Tritt zu fassen.
«Wir haben sehr lange gebraucht, um zusammenzuwachsen», sagt der Präsident der Grünliberalen, Jürg Grossen. Doch diese Phase sei jetzt überwunden, jetzt könne man nach vorne schauen.
Ungelöste Europafrage
Entsprechend wird es spannend sein, zu sehen, wer der zweiten Hälfte der Legislatur thematisch den Stempel aufdrücken kann. Mit der Coronakrise sind – neben der Klimathematik – wirtschafts-, sozial-, gesundheits- und gesellschaftspolitische Fragen dominanter geworden.
Der Bundesrat hat versagt!
Hinzu kommt die weiter ungelöste Europafrage, wie Grünen-Fraktionschefin Trede betont. Hier stehe der Bundesrat in der Verantwortung. «Er hat versagt!» Deshalb: «Es braucht eine Veränderung im Bundesrat – weil er weder bei der Klima- noch bei der Europafrage eine Antwort liefert.»
Damit ist die grosse Frage angesprochen, die sich bereits 2019 stellte und hinter den Kulissen auch heute bei manchen für Nervosität sorgt: Schaffen die Grünen 2023 den Sprung in den Bundesrat? Und falls ja: auf wessen Kosten?