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Handyverzicht Eine Siedlung geht offline

Fünf Tage lang leben rund 40 Menschen in einer Wohnsiedlung bei Bern ohne Handy – kein Whatsapp, kein Google, kein Instagram. Die «Rundschau» begleitet sie mit der Kamera: Was macht der Verzicht mit ihnen?

40 Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Strassweid in Mittelhäusern – von Teenagern bis Eltern – verzichten freiwillig fünf Tage lang auf ihr Smartphone. Fast alle sagen von sich, sie seien zu oft am Handy.

«Ich bin auf jeden Fall handysüchtig. Ich sage mir oft: ‹Noch fünf Tiktoks› – und dann werden es trotzdem 100», sagt etwa Teenagerin Milena.

Die «Rundschau» dokumentiert rund um die Uhr, wie die Leute ohne Handy leben. Schon am ersten Tag tauchen Probleme auf – viele holen das Smartphone kurz zurück, weil wichtige Zugänge blockiert sind.

Blick von oben auf eine Quartier
Legende: Die Siedlung Strassweid in Mittelhäusern bei Bern: Hier findet das Experiment statt. SRF/ Rahel Sahli / Deborah Schlatter

Ohne Handy fehlen Logins, Codes, Navigation. Sie merken schnell, wie abhängig ihr Alltag von der digitalen Welt ist: Analoge Wecker, Bargeld und Ticketautomaten werden wieder wichtig.

Der Dopamin-Entzug ist spürbar

Im Schnitt nutzen wir das Handy 150-mal pro Tag, Jugendliche sogar über vier Stunden. Die Hirnforscherin Barbara Studer begleitet das Experiment. Sie erklärt, dass ein solcher «Handy-Detox» unmittelbar Wirkung zeige: «Schon nach wenigen Stunden beginnt der Körper, einen Dopaminmangel zu spüren.»

Im Gehirn starte die Aktivierung, man suche nach dem Gerät. Das Ausbleiben des Botenstoffs Dopamin könne dazu führen, dass man sich niedergeschlagen fühle. Nach und nach stelle sich dann eine Entspannung ein, so Studer.

Bin ich handysüchtig?

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Eine hohe Bildschirmzeit allein bedeute noch keine Sucht, sagt das Fachteam für Verhaltenssucht der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Sie könne zwar ein Hinweis auf ein Risiko sein. Doch erst, wenn bestimmte Anzeichen hinzukommen, spreche man von Sucht. Typische Merkmale von Handysucht sind:

  • Kontrollverlust: Sie nehmen sich vor, weniger Zeit am Handy zu verbringen, schaffen es aber nicht.
  • Gedankliche Vereinnahmung: Sie denken ständig ans Handy – selbst wenn Sie es gerade nicht benutzen. 
  • Negative Folgen: Die Handynutzung beeinträchtigt Ihr Leben – etwa durch Konflikte mit Familie oder Partnerinnen, soziale Isolation oder schulische beziehungsweise berufliche Probleme. 

Quelle: UPK Basel

Selbst Menschen mit wenig Bildschirmzeit können laut Studer Entzugserscheinungen entwickeln. In der Siedlung spüren das vor allem die Frauen. Bettina Schilliger (55) spürte ein Kribbeln im Gesicht, Lydia Fasel erlebte intensivere Träume – und stellte gleichzeitig fest, dass der Familienalltag ohne Bildschirmdiskussionen ruhiger wurde.

Andere Teilnehmende waren genervt, weil ihr Alltag komplizierter wurde, und überlegten, das Experiment abzubrechen.

Viele jedoch fühlten sich entspannter, präsenter und weniger gestresst. So wie der Vater Reto Kaeser. Er sagt, der Blick falle jetzt nicht mehr ständig aufs Gerät: «Ich fühle mich präsenter im Körper – meine Sinne sind offener. Ich höre die Vögel viel besser.»

Nach fünf Tagen holen sich die Teilnehmenden ihre Smartphones zurück. Die Jugendlichen reagieren überraschend gelassen. «Ich bin überrascht, dass ich es gar nicht vermisse», sagt Nino (15). Milena (15), zuvor stundenlang auf Tiktok, meint: «Ich werde die App löschen – reine Zeitverschwendung.»

Manche scrollen zwar sofort wieder durch ihre Feeds, doch bei allen hat der Verzicht etwas ausgelöst: Viele wollen ihren Umgang mit dem Smartphone überdenken.

Messbare Effekte auf Konzentration und Wohlbefinden

Vor und nach der handyfreien Woche absolvierten alle Teilnehmenden ein Online-Assessment. Die Ergebnisse sind laut Neurowissenschaftlerin Barbara Studer deutlich: Schon nach fünf Tagen verbesserten sich Konzentration, Gedächtnis, emotionale Ausgeglichenheit und Wohlbefinden um durchschnittlich acht bis zwölf Prozent.

Ein Knabe steht vor einer Kiste, die voller Handys ist
Legende: Mehr Klarheit im Kopf, wenn das Handy weg ist? Das Experiment in Bern liefert Hinweise darauf. SRF /Rahel Sahli / Deborah Schlatter

Auffallend war der Effekt in Bezug auf Aufmerksamkeit und mentale Klarheit: Viele Teilnehmende fühlten sich fokussierter, ruhiger und schliefen besser. Der Verzicht auf digitale Reize gab dem Gehirn spürbar Raum zur Erholung.

Rundschau, 25.6.2025, 20:05 Uhr; sten

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