«Seide ist ein wahnsinniges Material», sagt Alexis Schwarzenbach. Der Historiker untersucht mit seinem Team der Hochschule Luzern die Geschichte der Zürcher Seidenindustrie.
In der Forschung gilt es etwa zu klären, wie Zürich zu einem der führenden Zentren der europäischen Seidenindustrie aufstieg – um 1900 wurden im Kanton Zürich jährlich zig Millionen Meter von Seidenstoff produziert. Aber auch auf eine Epidemie und miserable Arbeitsbedingungen ist das Forschungsteam der Hochschule Luzern gestossen. Doch beginnen wir von vorne.
Im 19. Jahrhundert war das Seidengewerbe der bedeutendste Industriezweig im Kanton Zürich und einer der wichtigsten in der ganzen Schweiz. Anfänglich woben Bäuerinnen und Bauern die Seidenstoffe noch in ihren Stuben.
«Es braucht so viel Fertigkeit, einen solchen Stoff zu weben», sagt Forscher Alexis Schwarzenbach. «Ich habe eine grosse Bewunderung für die zehntausenden Leute, welche dies im Kanton oftmals über Generationen hinweg gemacht haben».
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Bild 1 von 2Legende: Viele Frauen webten zuhause: Die Fotografie zeigt eine Seidenweberin aus dem Toggenburg (1890 – 1910). © Schweizerisches Sozialarchiv, F 5099-Gb-004
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Bild 2 von 2Legende: Heimarbeit auch im Kanton Schwyz: Diese Fotografie entstand ebenfalls im 19. Jahrhundert. © Schweizerisches Sozialarchiv, F 5099-Gb-031
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden mit der Industrialisierung zahlreiche Seidenfabriken. Gleichzeitig sei der Bedarf nach Rohseide gestiegen, so Schwarzenbach: «Immer mehr Menschen hatten Geld übrig und wollten sich luxuriöse Kleidung leisten». Sprich: ein Seidenkleid.
Um 1850 brach jedoch eine Epidemie unter den Seidenraupen aus. «Die Produktion von Rohseide brach zusammen». Seide aus Frankreich oder Italien zu importieren, war nicht mehr möglich. Neue Ideen waren gefragt.
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Bild 1 von 3Legende: Handel mit Stoff: Eine Illustration zeigt das Seidenkaufhaus Grieder kurz vor 1900. © Baugeschichtliches Archiv Zürich
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Bild 2 von 3Legende: Seidenwebereien und Seidenfärbereien wie diese von Bodmer kamen in Zürich im 19. Jahrhundert auf. © Baugeschichtliches Archiv Zürich
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Bild 3 von 3Legende: Die Seidenzwirnerei Krebser wurde 1867 in Zürich gegründet. © Baugeschichtliches Archiv Zürich
In dieser Zeit stieg Japan zum wichtigsten Produzenten von Rohseide auf. Wegen der Seidenknappheit blickten Händler wie die beiden Zürcher Hermann Sieber und Caspar Brennwald erstmals nach Asien. «Mit ihren Netzwerken reisten sie abenteuerlich nach Japan, wo es noch fast keine europäischen Unternehmer gab und sie Rohseide kauften». Dies sei die faszinierendste Entdeckung der Forschung.
Furchtbares Elend in Japan
Wie das Team um Alexis Schwarzenbach aus Berichten erfuhr, herrschten jedoch miserable Arbeitsbedingungen in den Seidenspinnereien. Zwölf- oder dreizehnjährige Mädchen mussten arbeiten; wurden von ihren Eltern verkauft.
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Bild 1 von 5Legende: Zürcher bezogen Seide aus Japan. Doch die Zustände in japanischen Seidenfabriken waren teilweise beelendend. © Ortsmuseum Sust Horgen
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Bild 2 von 5Legende: Eine Illustration zeigt, wie Japanerinnen und Japaner Seidenraupen züchteten. © Ortsmuseum Sust Horgen
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Bild 3 von 5Legende: Die Schweiz importierte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts solche Rohseide aus Japan. © Ortsmuseum Sust Horgen
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Bild 4 von 5Legende: Die Bilder stammen aus einer Zeit zwischen 1878 und 1938. © Ortsmuseum Sust Horgen
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Bild 5 von 5Legende: Eine japanische Handelsmarke für Seide, Illustration von 1879 © Ortsmuseum Sust Horgen
«In der Nacht wurden die Mädchen eingesperrt und von männlichem Aufsichtspersonal misshandelt», sagt Schwarzenbach. «Die Seide der vielen wahnsinnig schönen Stoffe ging durch Hände, die nichts von dieser Schönheit hatten – sondern ein furchtbares Leben und schreckliche Arbeitsbedingungen».
In der Nacht wurden die Mädchen eingesperrt.
Solche Stoffe sind heute in der Textilsammlung des Zürcher Landesmuseum gelagert. Denn im Rahmen des Forschungsprojektes wurden Firmen-Archive gesichert. Papiere wie Fotografien oder Protokolle aus den Archiven finden sich im Staatsarchiv des Kantons Zürichs. Wer will, erhält Einblick: «Für Privatpersonen, die sich interessieren, sind diese Sachen nun sehr gut zugänglich», so Schwarzenbach.
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Bild 1 von 5Legende: Im Landesmuseum Zürich lagern Stoffe und Skizzen wie diese Zeichnung aus dem Jahr 1921. © Schweizerisches Nationalmuseum
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Bild 2 von 5Legende: Wer in solchen Musterbüchern blättern will, muss feine Handschuhe anziehen. © Schweizerisches Nationalmuseum
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Bild 3 von 5Legende: Über 4000 Objekte gibt es im Studienzentrum Textil. © Schweizerisches Nationalmuseum
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Bild 4 von 5Legende: Dieses Seidengewebe wurde 1900 an der Weltausstellung in Paris präsentiert. © Schweizerisches Nationalmuseum
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Bild 5 von 5Legende: Fast sechzig Jahre später wurde dieses Kleidungsstück entwickelt. © Schweizerisches Nationalmuseum
So bleibt die einstige Blütezeit für die Öffentlichkeit sichtbar. In der Stadt Zürich erinnern heute zwar noch Strassen wie die «Seidengasse» oder das «Hotel Seidenhof» an die seidene Vergangenheit. Die letzten beiden Seidenfabriken des Kantons mussten allerdings 2012 schliessen, viele Fabriken wurden inzwischen abgerissen.