Zum Inhalt springen

Hörbehindert ans Konzert Ein Ballon macht das Konzert spürbar

Das Sinfonieorchester St. Gallen spielt ein Konzert für hör- und sehbehinderte Menschen. Es ist eine Schweizer Premiere.

«Es war der absolute Hammer», sagt Gerd Bingemann. «Ich hatte es mir so erhofft, aber es hat meine Hoffnungen weit übertroffen.» Gerd Bingemann ist blind und hat eine Höreinschränkung. So begeistert ist er von der Hauptprobe des ersten inklusiven klassischen Konzerts der Schweiz.

Das Konzert gibt das Sinfonieorchester St. Gallen. Es ist eine Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen (Szblind). Der Verein stiess im Ausland auf dieses Experiment und wollte es auch in der Schweiz ermöglichen.

Mann mit einem orangen Ballon in den Händen sitzt zwischen Musikern.
Legende: Der Ballon überträgt Schwingungen. Im Ohr trägt Gerd Bingemann eine induktive Höranlage. SRF/Wera Aegerter

Zwei Hilfsmittel werden zur Verfügung gestellt: Ein Ballon, der die Schwingungen überträgt, und eine induktive Höranlage. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das den Ton direkt auf das Hörgerät oder die Hörimplantate spielt, ohne Hintergrundgeräusche.

Diese beiden Hilfsmittel werden auch beim Konzert verteilt werden. Menschen ohne Beeinträchtigung dürfen einen Ballon nehmen, wenn sie möchten. Fünf Personen mit einer Hör- und Sehbehinderung dürfen zum Orchester auf die Bühne sitzen.

Anfassen nur während der Probe

Gerd Bingemann legt seine Hand auf den Kontrabass neben ihm. Auch verschiedenen Musikern hält er, während sie spielen, die Hände auf die Schultern – sogar dem Dirigenten. Während der Hauptprobe darf er das. Beim richtigen Konzert wird Anfassen nicht gehen: Es würde die Musikerinnen und Musiker zu stark ablenken. Sie müssen sich konzentrieren und an den richtigen Stellen einsetzen.

Mann berührt Schultern eines Dirigenten, der ein Orchester dirigiert.
Legende: Eine ungewohnte Situation für den Dirigenten Modestas Pitrenas. So nah dran zu sein ist nur während er Probe möglich. SRF/Wera Aegerter

Gerd Bingemann ist selber Musiker und er schwärmt von den Eindrücken mit dem Dirigenten: «Ich habe gespürt, wie er ‹süüferli› jemanden etwas herausholt, wie die Musik dann abschwillt und wie er plötzlich ruckartige Bewegungen macht in eine Richtung – und aus dieser Richtung dann ein Schwall von Tönen kommt, die vorher nicht da waren.»

Anstrengend, aber es lohnt sich

Bei der Hauptprobe ist auch eine taubblinde Frau dabei. Nach gut 30 Minuten werden ihr die Klänge und Eindrücke zu viel. Sie stellt das Hörgerät ab und setzt sich etwas weiter weg in den Publikumsraum. Gerd Bingemann hingegen kostet das spezielle Erlebnis voll aus.

Musik höre er schon sein ganzes Leben lang gerne. Und da er selber aktiver Musiker sei, interessiere ihn das Ganze doppelt und dreifach. «Das tastbare Element, das Begreifen, wie gespielt wird – das ist absolut neu. Ich habe auch noch nie gehört, dass das schon einmal möglich war.» Er hätte nicht damit gerechnet, dass es so spannend werde für ihn.

Geplant ist im Moment nur ein inklusives Konzert. Der Szblind und das Sinfonieorchester St. Gallen sind jedoch bereits in Gesprächen über eine Fortsetzung. Wird das Konzert ein Erfolg, könnte es weitere Aufführungen geben.

Regionaljournal Ostschweiz, 16.2.2024, 12:03 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel