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Humanitäre Visa Gericht klopft SEM auf die Finger

Iran und Pakistan sind keine sicheren Drittstaaten für Flüchtlinge aus Afghanistan, sagt das Bundesverwaltungsgericht in mehreren neuen Urteilen. Es stellt sich damit gegen das Staatssekretariat für Migration.

Wer in Afghanistan von den Taliban akut bedroht wird und deshalb von der Schweiz ein humanitäres Visum möchte, muss nach Pakistan oder in den Iran flüchten. Denn dort hat die Schweiz Botschaften. Ihre Vertretung in Kabul hingegen hat die Schweiz im August 2021 vorübergehend geschlossen, das Personal aus Sicherheitsgründen abgezogen.

Bei der Ausstellung von humanitären Visa ist die Schweiz jedoch äusserst restriktiv. Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) gibt es zwar keine systematische Praxis, den Iran oder Pakistan als sicheren Drittstaat zu betrachten, es werde jeder Einzelfall sorgfältig geprüft. Etwas anders sieht das allerdings der Verein AsyLex, der Asylsuchende rechtlich vertritt. Laut Geschäftsleiter Michel Brülhart gab es rund zwanzig ähnlich gelagerte Fälle, und: «Das SEM hat sie alle ziemlich pauschal abgewiesen.»

Iran und Pakistan nicht sicher

Jetzt hat das Bundesverwaltungsgericht dem SEM auf die Finger geklopft. Gleich dreimal in den letzten Wochen. Laut Bundesverwaltungsgericht ist basierend auf der aktuellen Quellenlage zu befürchten, dass zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen von Pakistan nach Afghanistan stattfinden. Und beim Iran geht das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der verfügbaren Daten davon aus, dass zwangsweise Repatriierungen nicht ausgeschlossen werden können.

In einem jetzt publizierten Entscheid weist das Bundesverwaltungsgericht das SEM sogar direkt an, einem ehemaligen afghanischen Staatsanwalt und dessen Familie humanitäre Visa auszustellen. Das gab es bisher so noch nie, sagt Valerio Priuli, Dozent für Migrationsrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. «Es gab schon länger Berichte über zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen nach Afghanistan, und das Gericht hat jetzt in mehreren Fällen die Lage anders eingeschätzt als das SEM.»

Lob und Kritik am Bundesverwaltungsgericht

Das sei zwar keine Praxisänderung im rechtlichen Sinn, aber eine neue Beurteilung der Situation im Iran und in Pakistan. Wegen drohender Ausschaffungen nach Afghanistan können Iran und Pakistan nicht mehr als sichere Drittstaaten gelten. Diese neue Beurteilung der Schweiz dürfte für ziemlich viele Personen wichtig sein. Nämlich für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen, die es bis in ein Nachbarland schaffen.

Der Verein AsyLex freut sich über diese neuen Urteile des Bundesverwaltungsgerichts. Er kritisiert jedoch, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit seinen Urteilen über ein Jahr Zeit gelassen hat – obwohl die Betroffenen eine akute Gefährdung geltend machten. Der Verein hat deshalb eine Aufsichtsanzeige beim Bundesgericht eingereicht. Das Bundesverwaltungsgericht will auf Anfrage nicht Stellung nehmen, es werde sich nur gegenüber dem Bundesgericht zum Vorwurf äussern.

Info3, 8.9.2023, 12:00 Uhr

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