Die Schweiz sei wahrlich kein fruchtbarer Boden für grosse Ideen, sagt der ehemalige Bundesratssprecher Oswald Sigg. «Wir sind in der Schweiz wirklich nicht im Gewächshaus der Utopien und Visionen.» Die Bevölkerung sei mehrheitlich konservativ und Neuerungen gegenüber skeptisch eingestellt.
Und doch gibt es hier Leute wie Sigg. Der 74-Jährige setzt sich seit seiner Pensionierung immer wieder für visionäre Initiativen ein: zuerst für ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann für eine Mikrosteuer auf alle Finanztransaktionen und aktuell für die Vollgeldinitiative.
Bei all seinem Einsatz weiss Sigg, dass solche Anliegen an der Urne in der Regel einen schweren Stand haben. Er sehe sich denn auch durchaus als einen Utopisten, gibt er zu. Doch genau das brauche unser Land: «Es ist eine Art Sensibilisierung der Stimmbürgerin und des Stimmbürgers», beschreibt Sigg den Sinn dieser Anliegen.
Es gehe dabei stets um vorhandene Probleme, für die ein konkreter Lösungsvorschlag präsentiert werde. So weise die Vollgeldinitiative etwa darauf hin, dass das Bankensystem leicht in Schieflage geraten könne – wie zuletzt bei der Finanzkrise vor zehn Jahren, so Sigg.
Auch Georg Kohler, emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich, ist froh, dass Bürgergruppen immer wieder Initiativen lancieren, die visionär sind: Oft würden sie ein Problem aufgreifen, das die Politik vernachlässigt oder noch nicht erkannt habe. Hierbei komme der Lösungsvorschlag stets «aus der Mitte der Zivilgesellschaft».
Wirkung auch ohne Mehrheit
Deshalb würden viele Initiativen eine gesellschaftliche Entwicklung anstossen, auch wenn sie an der Urne abgelehnt würden. Als Beispiel nennt Kohler die GSoA-Initiative von 1989: Zwar sei die Armee nicht abgeschafft worden; aber auf den Schock der damals fast 36 Prozent Ja-Stimmen folgte eine deutliche Verkleinerung der Armee.
Politphilosoph Kohler hat auch eine Erklärung dafür, warum sich solche Initiativen in jüngster Zeit häufen: wegen der technologischen Entwicklung. Diese verlaufe so rasant, dass die parlamentarische Politik kaum nachkomme, Lösungen für die Probleme zu finden. Da brauche es den Input von direktbetroffenen oder interessierten Bürgern. Dies beweise die Lebendigkeit der schweizerischen Demokratie.
Das Unmögliche wollen dürfen
Die visionären oder utopischen Initiativen sind also eine Art Seismograf der gesellschaftlichen Befindlichkeit. Laut Ex-Bundesratssprecher Sigg schlägt dieser so fein aus, weil unser Polit-System dafür ideal ist: «Die direkte Demokratie in der Schweiz ermöglicht es, das Unmögliche zu wollen.»
Derzeit ist es bei engagierten Initiativgruppen besonders angesagt, das Unmögliche zu wollen. Und das in einer Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung die aktuelle Polit- und Wirtschaftsordnung der Schweiz kaum hinterfragt.