Wenn jemand aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls nicht mehr arbeiten kann, hat er Anrecht auf eine IV-Rente. Bei komplexen Fällen entscheidet die Invalidenversicherung (IV) aufgrund externer Gutachten über die Rente. 29 solcher medizinischer Abklärungsstellen, so genannte Medas, gibt es.
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«Je nach Medas, der man zugeteilt wird, hat man Chancen, fair beurteilt zu werden, oder nicht.» David Husmann nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über die grossen Unterschiede zwischen den Medas spricht.
«Würfeln um die Rente»
Husmann ist Co-Präsident der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten und streitet für seine Klienten regelmässig vor Gericht um IV-Renten. Er sagt, die Zuteilung zu den Gutachter-Stellen erfolge zwar nach dem Zufallsprinzip. Gewähr für ein faires Verfahren habe man dennoch nicht: «Die Bandbreite ist enorm. Es wird quasi um ihre Rente gewürfelt.»
Husmann beruft sich auf die Statistik des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV). Das Amt erstattet seit wenigen Jahren Bericht darüber, welche Medas es mit wie vielen Gutachten beauftragt hat. 2014 publizierte das BSV in der Statistik auch, wie einzelne Medas die Arbeitsfähigkeit der Patienten eingestuft haben.
IV-Statistik: Mitmachen freiwillig
Die Unterschiede sind riesig: 2014 hat die Medas ZIMB in Schwyz bei 120 Gutachten lediglich 22 Prozent der Patienten so eingestuft, dass sie eine Rente zugute hätten. Bei der Medas SAM in Bellinzona hingegen liegt dieser Anteil bei 58 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für Kranke eine Rente zugesprochen zu bekommen, ist hier also fast dreimal so hoch.
Diese Zahlen veröffentlichte das BSV 2014. Aber sie sind nicht vollständig. Die Offenlegung war freiwillig. Nur die Hälfte der Medas deklarierte, wie sie die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten eingeschätzt haben. Bei der anderen Hälfte der Medas bleibt dies ein Geheimnis.
«BSV vernachlässigt die Aufsicht»
Noch schlimmer 2015: Das BSV verzichtete ganz auf diese wichtige Statistik. Das Bundesamt vernachlässige seine Aufsichtspflicht, sagt David Husmann: «Man ist sprachlos, wenn man das sieht. Ich sehe nicht ein, dass eine Gutachterstelle nicht mal ihre Zahlen veröffentlicht.» Er fordert: «Es sollte eine Bedingung sein, dass die Medas diese Zahlen offenlegen und sonst gibt es keine Aufträge mehr.»
«Vielleicht machen wir es noch»
Für IV-Gutachten zahlt der Bund pro Jahr insgesamt 81 Millionen Franken Steuergelder. Was sagt das BSV zur Kritik, es vernachlässige die Aufsicht? «Kassensturz»-Moderatorin Kathrin Winzenried hat dazu Rolf Camenzind, Kommunikationsleiter des BSV, befragt:
Kathrin Winzenried: Wie ist es möglich, dass je nach Medas die Chancen auf eine IV-Rente unterschiedlich hoch sind?
Rolf Camenzind: Es gibt Unterschiede, die sich erklären lassen. Beispielsweise hat nicht jede Abklärungsstelle die gleichen Patienten und die gleichen Fachrichtungen. Darum gibt es Unterschiede.
Ganz konkret: Eine Medas im Kanton Tessin spricht dreimal so viele Renten wie eine Medas im Kanton Schwyz. Wie ist das möglich?
Camenzind: Mir liegt jetzt keine Untersuchung vor, die genau aufzeigen würde, was die Einflussfaktoren sind. Aber es lässt sich wahrscheinlich erklären.
Sie mutmassen einfach. Warum läuten bei diesen grossen Unterschieden bei Ihnen nicht die Alarmglocken?
Camenzind: Uns ist es viel wichtiger, dass wir bei jedem einzelnen Gutachten genau hinschauen. Jedes einzelne Gutachten wird von der IV-Stelle beurteilt, von Ärzten, die beurteilen, ob ein Gutachten plausibel ist. Und ob die richtigen Kriterien beurteilt wurden. Wir haben etwa 8000 Beschwerden im Jahr. In so einem Fall muss auch ein Gericht von diesem Gutachten überzeugt sein. Das ist für uns das Wichtigste, ob ein Gutachten im Einzelnen standhält.
Für Ihre Aufsichtspflicht ist ja nicht entscheidend, ob ein Patient vor Gericht Recht bekommt oder nicht, wenn er sich wehrt. Es geht doch um die Qualität der Gutachten. Patientenanwälte kritisieren, das BSV vernachlässige die Aufsichtspflicht, weil es nicht einmal die Statistiken der Medas einfordere. David Husmann fordert: Wer keine Zahlen liefert, sollte auch keine Aufträge mehr erhalten.
Camenzind: Die Zahlen haben wir wieder zurückgezogen, weil sie alleine wenig aussagekräftig sind.
Da machen Sie es sich zu einfach. Anstatt die Zahlen wirklich akribisch zu erfassen!
Camenzind: Vielleicht müsste man es wissenschaftlich untersuchen lassen. Das könnte man tatsächlich mal machen. Aber die Zahlen, die wir 2014 veröffentlichten und 2015 nicht mehr, die sagten einfach nichts aus. Das Bundesgericht hat uns ausdrücklich bestätigt. Es sagte: Diese Zahlen sind interpretationsbedürftig. Das bringt nichts.
Das Bundesgericht hat nicht gesagt, das BSV solle keine Zahlen mehr erheben. Es sagt sogar explizit: Wenn man detaillierte Zahlen hätte, auch nach Gutachter aufgeschlüsselt, wären Rückschlüsse auf die Qualität möglich.
Camenzind: Mehr Zahlen bringen nichts. Man müsste die Zahlen wissenschaftlich untersuchen.
Warum untersucht das BSV also nicht genauer?
Camenzind: Wir haben das noch nicht gemacht. Vielleicht machen wir es noch.
Diese IV-Beratungsstellen haben nicht geantwortet: ABI (Basel), Asim (Basel), Begaz (Binningen), CRR (Sion), MEDAS Ostschweiz (St.Gallen), MGSG (Rorschach), MZR (Zürich), PMU (Lausanne), ZVMB (Bern).