Die Swiss verkauft sich auf ihrer Webseite als Premium-Arbeitgeberin. Von «Gastgeberqualität» ist die Rede und von einem «Job als Erlebnis». In den Ohren des Kabinenpersonals muss das wie Hohn klingen.
Acht Flight Attendants und Maîtres de Cabine, mehrere seit Jahrzehnten bei der Swiss oder vorher bereits bei der Swissair tätig, erzählen SRF Investigativ von unhaltbaren Zuständen. Von Wut, Enttäuschung und Resignation und von ihrer Befürchtung, dass ihre einst hoch angesehene Arbeitgeberin ihre Reputation verliert. Sie reden anonym, weil sie Konsequenzen fürchten – ihre Namen sind geändert.
«Das Herzblut, das man früher hatte, die Identifizierung mit der Firma, das ist weg. Dieses Herzblut ist gestorben», sagt Sonja I., seit mehr als 20 Jahren Flugbegleiterin bei der Swiss.
«Kumulierte Müdigkeit»
Fatigue bezeichnet in der Luftfahrt die «kumulierte Müdigkeit» beim Flugpersonal, wie David Martinez, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Kapers, erklärt. «Wenn man sich nicht mehr imstande fühlt, die sicherheitsrelevanten Aufgaben an Bord wahrzunehmen. Und das ist die Hauptaufgabe des Kabinenpersonals.»
Im Flugzeug kann Fatigue verheerende Konsequenzen haben: Unkonzentriertheit und Fehler, die die Sicherheit beeinträchtigen können.
Die Fehler haben zugenommen.
«Die Fehler haben bei gewissen Arbeitsschritten sicher zugenommen. Da sind zum Teil schon Sicherheitsbedenken, die ich bei gewissen Kolleginnen und Kollegen habe. Die sind sich vermutlich gar nicht bewusst, wie erschöpft sie tatsächlich sind», sagt Roman D., ein erfahrener Flugbegleiter. «Etwa beim Equipment-Check. Oder man verriegelt oder entriegelt die falsche Kabinentüre. Oder ist so müde, dass man erst einmal überlegen muss, was der Captain zuvor angeordnet hat, weil man einfach zu erschöpft ist», sagt Roman D.
«Wir müssen derzeit ja mit weniger Crew-Mitgliedern auskommen und dennoch bei Bedarf richtig reagieren können. Aber oft ist man allein in der Kabine, kann sich nicht mit einer Kollegin absprechen. Etwa bei medizinischen Vorfällen, wenn man abschätzen muss, wie gravierend es ist. Das sind sicherheitsrelevante Themen», sagt Sonja I.
Die Swiss nimmt auf Anfrage von SRF schriftlich Stellung. Die Arbeitsbedingungen seien zurzeit für alle Mitarbeitenden von Swiss sehr anspruchsvoll und herausfordernd. Und weiter: «Im Falle des fliegenden Personals stellen die gesetzlichen und gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen bezüglich maximaler Arbeitszeiten, Freitagen nach den Einsätzen sowie Ferien sicher, dass die nötige Erholung möglich ist.»
Fatigue-Fälle verdoppelt
SRF Investigativ verfügt über die gesicherte Kenntnis, dass die Fatigue-Fälle beim Swiss-Kabinenpersonal seit letztem Herbst sprunghaft angestiegen sind. Zeitweise haben sie sich verdreifacht, wie die Kabinengewerkschaft Kapers gegenüber SRF bestätigt.
Die Gründe liegen auf der Hand: Mit den coronabedingten Krisen-Massnahmen beim Kabinenpersonal (festgehalten im sogenannten «Krisen-GAV») wurden etwa die Ruhezeiten gekürzt.
Trotz der Sparmassnahmen entliess die Swiss 334 Flight Attendants, was zu einer Unterbesetzung im Flugzeug führte. Und nun auch zur Streichung von Hunderten Swiss-Flügen. Die nervenaufreibende Durchsetzung der Maskenpflicht bei den Passagieren, verkürzte Aufenthalte (Layover-Zeiten) zwischen den Einsätzen und dazu Lohneinbussen wie der Verzicht auf Sonderzulagen oder den 13. Monatslohn – das alles führte in den vergangenen Monaten zu massiven zusätzlichen physischen und psychischen Belastungen.
Hinzu kam, dass der Flugbetrieb in den vergangenen Wochen sehr schnell hochgefahren werden musste – mit den bekannten chaotischen Folgen auf den Flughäfen. Rascher als erwartet waren die Flugzeuge wieder voll besetzt.
Swiss reagiert mit Druck und Einschüchterung
Dies alles führte zu weiteren Personal-Ausfällen. «Jede Flugbegleiterin und jeder Flugbegleiter ist verpflichtet, den Flugdienst nicht anzutreten, wenn sie Fatigue verspüren. Da ist es Aufgabe der Swiss als Arbeitgeberin, keinen zusätzlichen Druck auszuüben», sagt David Martinez von Kapers.
Das Gegenteil war der Fall. In einem internen Schreiben an die Belegschaft vom März 2022 spricht das Management von «auffälligen Kurzfristabsenzen» und kündet schärfere Massnahmen im Krankheitsfall an. «Bei qualifizierten Auffälligkeiten (…) erfolgt zwingend ein persönliches Gespräch.» In solchen Fällen könne die «Arztzeugnispflicht auf einen Tag» reduziert werden.
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Timo N. berichtet, dass dieses Schreiben grosses Unverständnis beim Kabinenpersonal ausgelöst habe. «Die Kommunikation kam in einer sehr angespannten Zeit.» Der Dank, den das Management im gleichen Schreiben an das arbeitende Personal ausdrückt hatte, sei dabei untergegangen. Die Swiss schreibt gegenüber SRF, auf vereinzelten Langstreckenflügen sei es zu einem Anstieg von Fatigue-Rapporten gekommen. Diese bewegten sich laut einer internen Überprüfung aber innerhalb des rechtlichen Rahmens, die benötigen Ruhezeiten seien eingehalten worden. Und: «Mit Blick auf das Thema Fatigue möchten wir deutlich klarstellen: Swiss plant und operiert die Einsätze der Besatzungsmitglieder nach den gültigen Verträgen und Vereinbarungen mit dem Sozialpartner. Dabei werden selbstverständlich zu jeder Zeit die gesetzlichen Vorgaben des Bazl (Bundesamt für Zivilluftfahrt, Anm. d. Red.) eingehalten.»
Das Bazl, zuständig für die Aufsicht über die zivile Luftfahrt in der Schweiz, hält fest, dass bei den offiziell gemeldeten Fällen keine Anhaltspunkte eines signifikanten Fatigue-Problems bestehen würden. Und dass es keinerlei Anzeichen sicherheitsrelevanter Risiken gebe aufgrund von erschöpftem Flugpersonal.
Luftfahrtorganisation warnte vor Fatigue
Ganz anders empfindet dies das Kabinenpersonal, das mit SRF gesprochen hat. «Dieses Schreiben zeigt, dass unsere Arbeitgeberin überhaupt nichts weiss von unserem Beruf. Nicht weiss, wie es uns geht. Sie hat überhaupt kein Verständnis für die psychische und physische Belastungen dieses Jobs», sagt Timo N. weiter.
Dabei hätte es die Swiss wissen können. Die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, warnt auf ihrer Webseite ausdrücklich vor zusätzlichen Fatigue-Fällen bei der Rückkehr zum Normalbetrieb .
Das Schreiben der Swiss wirkte, wenn auch im negativen Sinn. Es führte dazu, dass das Personal krank den Dienst antrat. Ein Arztzeugnis kostet und muss von Flight Attendants in vielen Fällen aus der eigenen Tasche bezahlt werden. Viele von ihnen haben hohe Franchisen, um die Prämienbelastung möglichst tief zu halten, wie sie selbst sagen. Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter arbeiten im Tieflohnsektor. Einstiegslohn: 3400 Franken brutto. Nach zehn Jahren knapp 4000 Franken brutto.
Roman D. berichtet: «Gerade die dienstjüngeren Mitarbeitenden können sich das Arztzeugnis nicht leisten. Da gab es Leute, die krank arbeiten gingen. Die waren eigentlich nicht ‹fit to fly›. Aber sie hatten Angst, sich abzumelden und zum Arzt gehen zu müssen.»
«Man wird verdächtigt, dass man die Firma hintergehen will», sagt Sonja I. «Man muss fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn man krank ist. Wenn das ganze Korps unter Generalverdacht gestellt wird, dann tut das weh.» Die Swiss hält dagegen: «Bei Absenzen setzten wir auf eine starke Vertrauenskultur und verlangen erst ab dem 6. Tag ein Arztzeugnis. Ein Arztzeugnis ab dem 1. Tag wird nur in absoluten Ausnahmefällen mit Auffälligkeiten und nach erfolgten Gesprächen mit den betroffenen Mitarbeitenden eingefordert. Diese Massnahme betrifft jedoch lediglich eine minimale Anzahl von Kabinenmitarbeitenden.»
Miserable Umfragewerte beim Kabinenpersonal
Wie schlecht die Stimmung im Kabinen-Korps und generell beim Swiss-Personal ist, hat das Management im März dieses Jahres schwarz auf weiss präsentiert erhalten. SRF Investigativ liegen die Resultate einer internen Personal-Umfrage vor (siehe Grafiken).
Das Kabinenpersonal hat die schlechtesten Bewertungen abgegeben. Innerhalb eines Jahres sind die Bewertungen von Management, Arbeitgeber-Attraktivität oder Kommunikation auf Tiefstwerte gefallen. Die Swiss spricht im internen Papier selbst von «alarmierenden» Resultaten.
Die Swiss erklärt, man pflege das Vertrauen zwischen dem Kabinenpersonal und dem Management, indem auf «eine transparente, proaktive Kommunikation einschliesslich der Möglichkeiten zum direkten Austausch beispielsweise bei Webcasts, in Team Leader Calls oder bei den regelmässigen Events für Mitarbeitende» gesetzt werde.
Spott und Hohn
Hinzu kommt, dass ein Mitarbeiter der Swiss sich wiederholt despektierlich über erschöpftes Flugpersonal geäussert hat. Auf Twitter schrieb er im Juni 2020: «(…) so viel Missbrauch von Krankheit und Fatigue durch das Flugpersonal.» Um im Mai 2022 nachzudoppeln: «Fatigue…. DAS UNwort des Jahrhunderts !!»
Brisant: Der betreffende Mitarbeiter gehörte der Swiss internen Fatigue-Arbeitsgruppe an. Dort arbeitet er inzwischen nicht mehr mit, nachdem die Gewerkschaft Kapers interveniert hatte. Die Swiss betont auf Anfrage, dass der Mitarbeiter in keiner Führungsposition mehr tätig sei. Er selbst tituliert sich auf dem Business-Netzwerk LinkedIn als «Director at Swiss International Air Lines».
Befehlsverweigerung in der Kabine
Zu den schlechten Umfragewerten beigetragen hat auch die Einführung eines neuen Service-Prozederes in der Business-Klasse, das eine individuellere Betreuung der Passagiere hätte ermöglichen sollen. So sollen Essen und Getränke nicht mehr zu einer bestimmten Zeit serviert werden, sondern auf persönliche Bestellung der Passagiere dann, wenn sie das wünschten.
Das Kabinenpersonal hatte sich gemeinsam mit der Gewerkschaft Kapers gegen das neue System ausgesprochen, weil es viel zu aufwändig und personalintensiv sei. Dennoch wurde es letzten Herbst implementiert.
«Der neue Business-Class-Service war ein Fiasko. Wir haben das immer abgelehnt, aber man hat nicht auf uns gehört», bestätigt David Martinez von Kapers. Offiziell gilt das neue Service-Prozedere noch immer, doch das Personal ist zu einer Art Befehlsverweigerung übergegangen.
Wenn die Kabinentüren zu sind, gehört der Flieger uns.
«Offiziell wird der neue Service noch von uns verlangt. Aber wenn die Kabinentüren zu sind, dann gehört der Flieger uns. Und dann machen wir das so, wie wir das wollen. Die wenigsten machen es laut Buch. Es ist unpraktisch, es ist ein Stress und wir müssen einen Weg finden, wie es für uns erträglich ist», sagt die erfahrene Flugbegleiterin Sonja I.
Die Swiss sagt dazu, man habe Mitte April 2022 dem Kabinen-Corps verschiedene Massnahmen vorgestellt, um der aktuell herausfordernden und belastenden Situation entgegenzuwirken und Erleichterung zu schaffen, etwa, «die Wiedereinführung der Spesenentschädigungen bei Frühabflügen und Spätankünften sowie der Überstundenpauschale». Zudem seien Anpassungen bei Langstreckenflügen erfolgt: «Unter anderem werden in San Francisco und Los Angeles seit Mai wieder zwei Nächte Aufenthalt eingeplant.» Die Swiss schreibt, dass sich die Fatigue-Meldungen seither wieder auf dem Niveau von vor der Corona-Pandemie bewegten.
Der Aderlass geht weiter
Die emotionale Bindung zur einstigen Vorzeige-Arbeitgeberin Swiss sei bei vielen Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern weg. «Das Vertrauen ist weg. Das ist auch der Grund, warum ich da nicht mehr mitmache», sagt Roman D. Er hat sich entschieden, nach den nervenzehrenden vergangenen Monaten zu gehen. Sonja I. sagt: «Auf jedem Flug hat es mindestens jemanden, der geht. Manchmal sind es zwei oder drei. Es ist ein sinkendes Schiff.»
Die Swiss rekrutiert derweil auf Hochtouren und erklärt: «Insgesamt rekrutieren wir rund 800 Kabinenbesatzungsmitglieder, inklusive regulärer Fluktuation, die wir bis Mitte 2023 einstellen werden. An dieser Stelle möchten wir hervorheben, dass sich die Fluktuation beim Kabinenpersonal im üblichen Rahmen bewegt.»