Zwei Geschwister, ein Bub und ein Mädchen – jahrelang von den Eltern misshandelt. «Die Behörden haben den Buben im Stich gelassen», sagt Rechtsanwalt Sven Gretler. «Die Misshandlungen wären in diesem Ausmass nicht möglich gewesen, wenn sie ihn geschützt hätten.»
«Es war ein totales Versagen der Behörden, die dem Kindesschutz verpflichtet sind», sagt Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern. «Dieser Fall muss grundsätzlich an ein Gericht gehen.»
Wie Recherchen der «Rundschau» zeigen, läuft gegen zwei ehemalige Verantwortliche der damaligen Vormundschaftsbehörden der Stadt Zürich ein Strafverfahren. Vorwurf: Schwere Körperverletzung durch Unterlassen. Und: Die Staatsanwaltschaft will gemäss «Rundschau»-Informationen weitere Personen befragen.
Kinder im Keller eingesperrt
Der Fall hat schockiert: Vor zwei Jahren mussten sich vor dem Zürcher Bezirksgericht eine Mutter und ein Vater verantworten, Eltern von sieben Kindern. Wohnhaft in der Stadt Zürich.
Die Opfer waren in der Nacht im Zimmer oder im Keller eingesperrt, bekamen zu wenig oder kein Essen, wurden geschlagen, mussten Erbrochenes aufessen und auf den Boden urinieren. So stand es in der Anklageschrift. Die Eltern beschuldigen einander. Beide haben das Urteil angefochten.
«Der Junge wird ausgehungert»
Die vorgeworfenen Taten liegen teilweise mehr als 15 Jahre zurück. Die «Rundschau» hat Einsicht in die Akten bekommen. Darin zeigt sich das Ausmass möglicher Behördenfehler, die nun juristisch aufgearbeitet werden sollen.«Sie haben in dieser Zeit keine einzige Kindesschutzmassnahme angeordnet», sagt Rechtsanwalt Sven Gretler.
Auffallend sind die teils dramatischen Gefährdungsmeldungen. «Der Knabe wird systematisch ausgehungert», schreibt die Schulärztin im Januar 2008. «Ich appelliere deshalb dringend an Sie, sofort Kinderschutzmassnahmen einzuleiten und den Eltern die elterliche Gewalt zu entziehen.»
Auch Nachbarn schlagen Alarm
Nachbarn sprechen im Juli 2010 bei der Behörde vor, erzählen, zwei Kinder der Familie müssten im Keller schlafen. «Das geschah nach unzähligen Meldungen», sagt Sven Gretler. «Die Behörde notierte danach, die Meldung für sich allein rechtfertige ein Eingreifen nicht.»
Die «Rundschau» hat die unterdessen pensionierten Beschuldigten sowie deren Anwälte mit den Vorwürfen konfrontiert. Sie wollen sich nicht äussern. Für sie gilt die Unschuldsvermutung.
Auch die heute zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde der Stadt Zürich will nichts vor der Kamera sagen: «Der tragische Verlauf dieses Falles und das Schicksal der betroffenen Kinder beschäftigen uns sehr. Wir haben daher eine Aufarbeitung durch externe Fachpersonen geplant, um zu prüfen, was wir rückblickend daraus lernen können.»
«Im Zweifel anklagen»
Im Sommer kündigte die Staatsanwaltschaft an, das Verfahren einstellen zu wollen. Nun gibt es offenbar weitere Befragungen.
Strafrechtsprofessor Jonas Weber hat teilweise Akteneinsicht bekommen, er kennt etwa den Ermächtigungsbeschluss des Obergerichts. Dieser ist nötig, um ein Strafverfahren gegen Beamte und Behörden einzuleiten. «Wenn man sich das Ermächtigungsurteil anschaut, ist eine Einstellung nicht plausibel», sagt er. «Es hat viele Hinweise auf belastende Momente darin. Im Zweifel muss die Staatsanwaltschaft anklagen.»