Das Wichtigste in Kürze
- Albert Wettstein schlägt Alarm: Nach seinen Berechnungen würden bis zu 22'000 Demente in der Schweiz unnötig ruhiggestellt. Wettstein ist ehemaliger Zürcher Stadtarzt und leitet jetzt die Fachkommission für unabhängige Beschwerdestelle für das Alter.
- Die Methoden würden zur Anwendung kommen, obwohl fatale Nebenwirkungen belegt seien.
- In der Schweiz erhielten zudem bis zu einem Viertel der Dementen zu viel Neuroleptika – also Medikamente zur Behandlung psychischer Krankheiten.
- Der Heimverband Curaviva wehrt sich gegen den Pauschalvorwurf, den Patienten zu viele Medikamente abzugeben.
Demenzpflege ist äusserst anspruchsvoll – denn viele Demente sind depressiv, aggressiv oder verspüren den Drang, sich zu bewegen. Das fordert das Personal. Störrische Menschen medikamentös zu beruhigen statt zu betreuen sei deshalb sehr verführerisch, sagt Albert Wettstein. Der ehemalige Zürcher Stadtarzt leitet die Fachkommission der unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA. «Der Arzt verschreibt ein Medikament und schon ist ein schwieriger Patient einer, der einfach zu betreuen ist,» sagt Wettstein.
Zahl der Demenzkranken höher als ausgewiesen
Wettstein hat errechnet, dass in der Schweiz bis zu einem Viertel der dementen Heimbewohner zu viel Neuroleptika erhalten. Er bezieht sich auf die sogenannten RAI-Daten, die unter anderem den Einsatz von Medikamenten in den Heimen messen. Normalerweise benötigten zwischen acht bis 35 Prozent der Bewohner Neuroleptika. In der Schweiz seien es aber 47 Prozent.
Zwei Drittel der Bewohner in Alters- und Pflegeheimen litten unter Demenz. Die Zahl sei höher als das Bundesamt für Statistik angibt. «Bei vielen Patienten wird die Diagnose nicht gestellt», sagt Wettstein. Nach seinen Berechnungen werden über 22'000 Demente in der Schweiz unnötig sediert – dies obwohl fatale Nebenwirkungen bei älteren Menschen belegt sind: Sie können Parkinson auslösen, Apathie oder gefährliche Stürze verursachen. Wettstein rät: Medikamente bewusster und in kürzerer Dauer zu verabreichen.
Heimverband: Krankengeschichten seien komplex
Der Heimverband Curaviva relativiert hingegen. «Wir wehren uns gegen den Pauschalvorwurf, dass die Heime zu viele Medikamente abgeben», sagt Markus Leser, Leiter Fachbereich Menschen im Alter. Die einzelnen Krankengeschichten seien oftmals komplex und die Konzepte der Heime unterschiedlich.
Das Zeitmanagement bestimmten vielerorts den Heimalltag. Melissa Schärer arbeitet als Stationsleiterin in der Stiftung Amalie Widmer – einem Pflegezentrum in Horgen am Zürichsee. «Der Spardruck hat zugenommen. Es braucht kreative Lösungen, um weiterhin pflegen zu können wie gewohnt», sagt sie.
Singen statt zudröhnen
Die Stiftung Amalie Widmer aber geht nun neue Wege: Zwei Sozialarbeiterinnen wurden engagiert, welche mit den dementen Bewohnern deren Lieblingslieder einüben. Denn zahlreiche Studien belegen, dass sich Musik positiv auf die Dementen auswirkt. Melissa Schärer: «Bei uns ist eigentlich auch kein Budget vorhanden für solche Projekte. Doch wir haben gemerkt: Mit Musik lassen sich die Patienten besser motivieren und beruhigen – und so rascher pflegen.» Und schlussendlich könne das Pflegepersonal so oftmals auf das Verabreichen mancher unnötiger Medikamentendosis ganz verzichten.