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Krieg in der Ukraine «Die Schweizer Sanktionen sind eine Zäsur»

Der Bundesrat hat entschieden, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Weshalb sich das nicht mit der Schweizer Neutralität beisst und wie das historisch einzuordnen ist, erklärt Oliver Diggelmann, Spezialist für Völkerrecht.

Oliver Diggelmann

Professor für Völkerrecht

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OIiver Diggelmann lehrt an der Universität Zürich Völkerrecht, Öffentlichkeitsrecht und Staatsphilosophie. Neben Aufenthalten an Universitäten in Grossbritannien, den USA, Deutschland und Ungarn, war er persönlicher Mitarbeiter des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR.

SRF: Mit den nun beschlossenen Sanktionen geht die Schweiz so weit wie noch nie. Einverstanden?

Oliver Diggelmann: Bei wirtschaftlichen Sanktionen, ja. Das ist ein vollständiger Schulterschluss mit der EU in einem kristallklaren Fall. Die Schweiz hat sich «passiv» allerdings auch schon früher an militärischen Sanktionen des UNO-Sicherheitsrates beteiligt. Etwa, indem sie Überflugrechte gewährt hat wie 1995 im Jugoslawienkrieg.  

Sehen Sie darin einen Paradigmenwechsel bezüglich der Auslegung der schweizerischen Neutralität?

Es ist eine markante Zäsur. Ob es sich um einen langfristigen Wechsel handelt, wird sich zeigen. Denn die Sprache des Bundesrates ist interessant: Er spricht von einem «einmaligen Schritt». Das kann zweierlei bedeuten. Ein einmaliger Fall oder eine wirkliche Neuerung. Möglicherweise geht es in die zweite Richtung. 

Es ist eine markante Zäsur. Ob es sich um einen langfristigen Wechsel handelt, wird sich zeigen.

Andere neutralen Länder wie Schweden haben die von der EU vorgespurten Sanktionen schon vergangene Woche vollumfänglich übernommen. Versteht Schweden seine Neutralität anders?

Ja, das ist so. Ausser der Schweiz und bis zu einem gewissen Grad auch Österreich haben die meisten neutralen Staaten ein ziemlich nüchternes und pragmatischeres Verhältnis zur Neutralität. Bei uns in der Schweiz ist aber Neutralität auch ein Identifikationsmerkmal des Staates. Sie ist eine der vielleicht gar nicht so zahlreichen Klammern, die die Schweiz zusammenhält. Wir reagieren daher sehr viel empfindlicher, wenn wir die Neutralität tangiert sehen. Und sehen manchmal das grosse Ganze nicht.

Mit den Sanktionen geht die Schweiz auch gezielt gegen einzelne russische Personen vor. Neutral klingt das nicht.

Die Massnahmen gegen Individuen sind Teil des gegen den russischen Staat und seine Entscheidungsträger gerichteten Pakets. Heute macht man das so, um auch die Eliten spezifisch zu treffen. Im Fall dieser Aggression gibt es aber weder politisch noch moralisch einen Raum für die Gleichsetzung der Russen und der Ukrainer.

Die Schweiz macht mit bei dem, was beim klaren Bruch der fundamentalsten Regel des Völkerrechts eigentlich folgen muss.

Kritiker monieren: Die Schweiz nimmt sich mit den scharfen Sanktionen als möglichen Vermittler im Konflikt aus dem Spiel, weil eben die Neutralität geritzt werde.

Das ist die eine Interpretation. Man kann es aber auch so sehen: Die Schweiz macht mit bei dem, was beim klaren Bruch der fundamentalsten Regel des Völkerrechts eigentlich folgen muss. Russland stellt sich ausserhalb der Völkerrechtsgemeinschaft auf und nimmt damit die Konsequenzen in Kauf. Das schliesst keineswegs aus, dass die Schweiz die guten Dienste jederzeit anbieten kann. Wenn die Schweiz das sagt, glaubt man ihr das.

Die Schweiz mit ihrer Kombination von Neutralität, dem zweitem UNO-Sitz und unprätentiöser Diplomatie besitzt Spielräume und Glaubwürdigkeit, über die andere nicht verfügen.

Wie ist Ihre Einschätzung: Hat die Schweiz als Vermittlerin mehr einzubringen als andere – kann die Schweizer Diplomatie besonders gefragt sein?

Ja, natürlich. Es gibt allerdings noch andere Länder, die in diesem Bereich auch über besondere Glaubwürdigkeit verfügen, etwa Kanada und Norwegen. Die Schweiz mit ihrer Kombination von Neutralität, dem zweitem UNO-Sitz und unprätentiöser Diplomatie besitzt hier Spielräume und Glaubwürdigkeit, über die andere nicht verfügen.

Das Gespräch führte Michael Perricone.

Tagesschau, 28.02.2022, 18:00 Uhr ; 

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