Zum Inhalt springen

Krieg in der Ukraine «Durch den Krieg verliert man den Boden unter den Füssen»

Der Schock über den russischen Angriffskrieg sitzt bei Nazar Zatorskyy tief. Der Ukrainer lebt seit 15 Jahren in der Schweiz. Als Priester der griechisch-katholischen Kirche ist er nun besonders gefordert.

Nazar Zatorskyy

Ukrainischer Priester

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Nazar Zatorskyy lebt seit 2007 in der Schweiz und hat an der Universität Freiburg doktoriert. Der 42-Jährige ist Priester der Griechisch-Katholischen Kirche und arbeitet als Vikar der Seelsorgeeinheit St. Urban (Murten und Gurmels).

SRF News: Die Situation in der Ukraine spitzt sich immer weiter zu. Wie ist Ihre Gefühlslage?

Nazar Zatorskyy: Als Russland die Invasion gestartet hat, fühlte ich mich total vor den Kopf gestossen. Man kann sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn dein eigenes Land urplötzlich Ziel eines Angriffskrieges wird. Durch den Krieg verliert man den Boden unter den Füssen. Es ist, als ob man in eine neue Realität einbricht. Alles ist plötzlich unsicher.

Haben Sie Angst?

Angst nicht, weil wir praktisch schon seit 2014 im Krieg mit Russland stehen. Seit Putin die Krim annektiert hat. Aber innerlich war niemand aus der Zivilbevölkerung auf so einen massiven Angriff vorbereitet.

Sie sind erst vor wenigen Wochen aus der Ukraine zurückgekehrt. Wie haben Sie das Land damals erlebt?

Ich fahre regelmässig in meine Heimat. Anfang Februar besuchte ich meine Familie. Damals erlebte ich die Ukraine als normales, friedliches Land. Sich jetzt vorzustellen, dass die Ukraine zu Syrien wird, wo Luftangriffe ganze Städte dem Erdboden gleichmachen, das ist einfach Irrsinn.

Sich vorzustellen, dass die Ukraine zu einem Syrien wird, wo Luftangriffe ganze Städte dem Erdboden gleichmachen, ist einfach Irrsinn.

Ist es möglich, mit Ihrer Familie zu kommunizieren?

Ja, Internet und Telefon funktioniert noch. Kürzlich konnte ich kurz mit meiner Mutter sprechen, ich telefoniere regelmässig mit Freunden. Sie sind alle schockiert. Plötzlich wurden hunderttausende Menschen zu Flüchtlingen. Viele haben nur ihre Dokumente und etwas Bargeld, das sie in letzter Minute abheben konnten. Jetzt sind sie auf der Strasse unterwegs, sind völlig ausgeliefert.

Es werden bis zu fünf Millionen Flüchtlinge erwartet. Was kann die Schweiz jetzt tun, um diesen Leuten zu helfen?

Das Gleiche wie die anderen Länder: Leute aufnehmen und schauen, was man für sie machen kann. Natürlich hängt vieles davon ab, wie lange der Krieg dauern wird. Wenn nach drei Monaten alles vorbei ist, die Ukraine wieder die Kontrolle hat, dann werden die Flüchtlinge in den meisten Fällen wieder zurückkehren wollen. Ihr Leben haben sie schliesslich in der Ukraine. Wenn es aber zu einem jahrelangen Partisanenkrieg kommen sollte, muss man ganz andere Strategien ausarbeiten.

Es gibt derzeit viele Solidaritätsbekundungen an die Ukraine, auch aus der Schweiz. Bringt das etwas?

Das bringt sehr viel. Vor allem, wenn sie aus den westlichen, demokratischen Ländern kommen. Es ist eine Bekundung der Einstellung des eigenen Volkes an die Ukraine.

Menschen haben derzeit ein grosses Bedürfnis, Gott um Hilfe und Unterstützung anzuflehen.

Sie sind Seelsorger in der katholischen Kirche. Spüren Sie, dass die Leute in einer Krise wie der aktuellen in der Ukraine besonders viel Zuspruch brauchen?

Schon bevor der Krieg überhaupt richtig ausgebrochen ist, waren unsere Gottesdienste in der Krypta der Frauenkirche in Zürich so voll wie seit Monaten nicht mehr. Nach der ersten Demonstration in Bern machten wir einen Gottesdienst in der Berner Dreifaltigkeitskirche, dort kamen so viele Leute wie sonst nie. Sie haben wirklich das Bedürfnis, Gott um Hilfe und Unterstützung anzuflehen.

Zum Schluss: Warum sind die eigentlich in die Schweiz gekommen?

Das war eine pragmatische Entscheidung. Ich absolvierte mein Hauptstudium in Deutschland. Nach Freiburg kam ich, um meine Doktorarbeit zu schreiben und weil die Stadt zweisprachig ist. So konnte ich gleich noch Französisch lernen. Nun habe ich die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragt.

Das Gespräch führte Oliver Kempa.

Regionaljournal BE VS FR, 27.02.2022, 17:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel