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Krieg und Neutralität Was eine Nato-Annäherung für die Schweiz bedeuten würde

Darum geht es: Finnland und Schweden wollen ihr beitreten – und auch die Schweiz fasst eine Nato-Annäherung ins Auge. Dies hat der Bundesrat an seiner letzten Sitzung beschlossen. Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hat die Anziehungskraft des westlichen Verteidigungsbündnisses zugenommen. Doch wie vereinbar wäre dies mit der Schweizer Neutralität? Ein paar Eckpunkte.

Was ist die Nato?

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Die Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) ist ein 1949 gegründetes militärisches Verteidigungsbündnis, welches aus insgesamt 30 europäischen und nordamerikanischen Staaten besteht . Zunächst waren vor allem westliche Länder wie etwa Deutschland, Frankreich, Kanada oder die USA Mitglied. Ab der Jahrtausendwende haben sich immer mehr osteuropäische Staaten entschieden, der Nato beizutreten. So sind heute unter anderem auch Ungarn, Bulgarien oder alle Staaten des Baltikums Teil der Organisation. Wird ein Mitgliedstaat angegriffen, sind die anderen Bündnispartner zu militärischer Hilfe verpflichtet: der sogenannte Bündnisfall.

Wie ist die Beziehung der Schweiz zur Nato geregelt? Die Schweiz ist nicht Mitglied der Nato und ein Beitritt steht derzeit nicht zur Debatte. Diese Entscheidung würde gemäss Bundesverfassung ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstehen, das Stimmvolk müsste also darüber abstimmen. Unabhängig davon arbeitet die Schweiz durch die «Partnerschaft für den Frieden» seit 1996 mit der Nato zusammen. So sind etwa seit 1999 Schweizer Soldatinnen und Soldaten für die KFOR-Friedensmission im Kosovo im Einsatz. Die Schweiz nimmt auch an Übungen teil oder arbeitet in der Cyber-Abwehr mit der Nato zusammen. Ein Bündnisfall – also die Pflicht, einen Nato-Staat zu unterstützen, wenn dieser angegriffen würde – ist ausgeschlossen.

Welche Annäherungsschritte sind grundsätzlich möglich? Wer Teil der Nato werden will, muss sich vor allem den demokratischen Werten und der euro-atlantischen Sicherheit verschreiben. Schliesslich müssen alle Nato-Mitglieder dem Beitritt zustimmen. Dazwischen existiert die «Partnerschaft für den Frieden». Diese kann sehr flexibel ausgestaltet werden. Das zeigen etwa die Beispiele Finnland und Schweden. Die beiden skandinavischen Länder haben sich bereits vor dem Krieg in der Ukraine enger an die Nato gebunden. Schweden beteiligt sich beispielsweise an der «Nato Response Force», eine Eingreiftruppe, welche zu See, Land und Luft schnell eingesetzt werden kann. Der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat dient derweil als politisches Konsultationsforum.

Wie lässt sich Neutralität mit der Nato vereinbaren? Hier gilt es, zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik zu unterscheiden. Für den erstgenannten Punkt sind die Haager Abkommen relevant, welche die Rechte und Pflichten eines neutralen Staats definieren. Wichtigste Pflichten sind die Nichtteilnahme an Kriegen und das Verbot, Truppen, Kriegsmaterial oder das eigene Territorium zur Verfügung zu stellen. Innerhalb dieses Rahmens kann sich ein neutraler Staat bewegen, also seine Neutralitätspolitik gestalten. Diese ist im Fall der Schweiz alles andere als in Stein gemeisselt (siehe Box).

Neutralität: Ein sich wandelndes Konzept

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Der Schweizer Bevölkerung ist die Neutralität sehr wichtig. Gemäss einer ETH-Umfrage von diesem Jahr fanden 97 Prozent der Befragten, dass die Schweiz «ihre Neutralität beibehalten soll». Dieser Zustimmungswert stagniert seit Jahren auf diesem hohen Niveau, wenn auch die Zustimmung im Zuge des Kriegs in der Ukraine auf 89 Prozent gesunken ist, wie eine Nachbefragung gezeigt hat.

Schwammig ist allerdings, was mit Neutralität genau gemeint ist. Und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich der Begriff oft gewandelt hat. Schlossen die Eidgenossen beispielsweise im 16. Jahrhundert noch völkerrechtskonform militärische Allianzen, mussten sie unter der Herrschaft von Napoleon Bonaparte – wir bewegen uns gemäss Historischem Lexikon der Schweiz etwa im Zeitraum von 1797 bis 1803 – die Neutralität komplett preisgeben. Seit dem Ersten Weltkrieg entfachten vor allem folgende Ereignisse die Neutralitätsdebatte neu:

Völkerbund: Mit der Gründung der Vorläuferorganisation der heutigen UNO begann eine aktive Periode der Schweizer Aussenpolitik. Die «differenzielle Neutralität» der Schweiz wurde bestätigt – vom Übernehmen militärischer Sanktionen wurde sie also befreit, Wirtschaftssanktionen trug sie wiederum mit . Gleichzeitig begleitete die Neutralitätsdebatte die Abstimmung über den Beitritt zum Völkerbund. Der Abstimmungskampf war hart, das Ergebnis knapp: Zwar stimmten 56.3 Prozent der Schweizer Männer für die Vorlage. Das Ständemehr wurde aber nur knapp erreicht: 11.5 Stände waren für den Beitritt, 10.5 dagegen. Die Neutralitätsdebatte polarisierte also schon vor 100 Jahren.

Zwischenkriegszeit: Der Völkerbund schwächelte, Japan, Deutschland und Italien gaben in dieser Reihenfolge ihren Austritt bekannt. Zudem führte 1935 der Überfall des faschistischen Italien im heutigen Äthiopien in der Schweiz zur Diskussion, ob sie die Sanktionen des Völkerbunds mittragen sollte. Schweizer Wirtschaftskreise forderten, diejenigen gegen Benito Mussolinis Italien auf ein Minimum zu beschränken . Mit Erfolg: Die Schweiz kehrte zur «integralen Neutralität» zurück, von Wirtschaftssanktionen wurde also abgesehen.

Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz musste ab 1939 ständig mit einem Angriff der Achsenmächte rechnen. Damals wurde das Haager Abkommen, welches das Neutralitätsrecht regelt, mehrfach gebrochen: Die Schweiz gewährte Staatskredite an Italien und Deutschland, exportierte Kriegsmaterial und kontrollierte den Transitverkehr zwischen Deutschland und Italien ungenügend. Allgemein ist das damalige Verhalten der Schweiz in Verruf geraten, unter anderen aufgrund der Goldkäufe der Schweizerischen Nationalbank bei den Nationalsozialisten und der Flüchtlingspolitik.

Die Bindschedler-Doktrin: Mit Gründung der UNO begann 1945 das Zeitalter des modernen Völkerrechts. Internationale Verflechtungen nahmen zu, die neutrale Schweiz musste sich neu positionieren. Politik und Wirtschaft verschrieben sich ab 1954 der Doktrin von Rudolf Bindschedler, dem damaligen Rechtsdienst-Leiter des Aussendepartements. Diese beinhaltete auch eine Neutralität in Friedenszeiten. Entsprechend scheiterte der Beitritt zur UNO und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Vorläuferorganisation der Europäischen Union. Die Neutralität war derart sakrosankt, dass sich sogar der Beitritt der Schweiz in den Europarat, dem Hüter der Europäischen Menschenrechtskonvention, verzögerte.

Der Irakkrieg: 1990 änderte die Schweiz einmal mehr ihr Verständnis von Neutralität. Als Saddam Hussein seinen Truppen befahl, das benachbarte Kuwait zu überfallen, verhängte die UNO Wirtschaftssanktionen gegen den Irak . Und was unter der Bindschedler-Doktrin noch undenkbar war, wurde Realität: Die Schweiz übernahm die Wirtschaftssanktionen.

UNO-Beitritt und Nato-Annäherung: Mit dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich abermals die Weltlage, und mit ihr die Schweizer Neutralitätspolitik. 2001 befürwortete die Bevölkerung die Bewaffnung von Schweizer Freiwilligen für friedensfördernde Operationen der UNO, 2002 folgte dann der UNO-Beitritt . Bereits seit 1996 kooperiert die Schweiz zudem im Rahmen der «Partnerschaft für den Frieden» mit der Nato.

Ausblick: Mit dem Krieg in der Ukraine erhält die Neutralitätsdebatte neuen Wind. Gleich zwei Initiativen wollen die Schweizer Neutralität neu ausrichten – eine stammt von SVP-Altbundesrat Christoph Blocher. Er fordert darin, dass die Schweiz keinem militärischen Bündnis beitritt, sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen beteiligt und keine Sanktionen gegen kriegführende Staaten verhängt. Die coronaskeptische Organisation Mass-Voll will ebenfalls eine «Souveränitätsinitiative» lancieren. Ein weiteres Kapitel um das Thema Neutralität bahnt sich also an.

Welche Schritte wären mit der Schweizer Neutralität unvereinbar? Grundsätzlich jede Annäherung, welche das Neutralitätsrecht bricht. Offensichtliches Beispiel ist die Mitgliedschaft. Würde in diesem Szenario der Bündnisfall eintreten, wäre die Schweiz verpflichtet, militärische Unterstützung zu leisten. Doch es bestehen durchaus Möglichkeiten, näher an die Nato zu rücken, ohne die Neutralität zu ritzen, wie der wissenschaftliche Think-Tank Avenir Suisse beispielsweise schreibt. Dieser Ansicht ist auch der Bund. Gemäss einem Bericht des Aussendepartements soll die Schweiz bald auch mitmachen können, wenn die Nato den Bündnisfall übt. Diese Schlussfolgerung fügt sich ins Gesamtbild, immerhin sind die US-Kampfjets F-35, welche die Schweiz beschaffen will, auf eine Verteidigung im Verbund ausgelegt.

Tagesschau, 7.9.2022, 19:30 Uhr

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