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Krise des Bewährten Der Reiz des Autoritären

Für Politikphilosophin Katja Gentinetta ist klar: Die Demokratie steckt in der Krise. Sie erklärt, wie es zur Zäsur kam.

Längere Lebenserwartung, grösserer Wohlstand, mehr persönliche Freiheiten: Sechs glückliche Jahrzehnte lang ging es für die meisten Menschen in den westlichen Demokratien aufwärts, stellt Politikphilosophin Katja Gentinetta in der «Samstagsrundschau» von Radio SRF fest.

2008 kam es zum grossen Bruch: «Dann sind die Demokratien unter Druck gekommen», sagt Gentinetta. Die Ohnmacht der Staaten gegenüber den globalen Kapitalmärkten sei damals sichtbar geworden. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrisen hätten die Leute Angst bekommen, dass demokratische Staaten diese Entwicklung nicht mehr im Griff hätten.

Die wachstumsgewohnte Mittelschicht in Westeuropa oder den USA trat plötzlich an Ort, während andernorts die Globalisierungsgewinne eingefahren wurden.

Das grosse Paradoxon

Diese Erfahrung machte plötzlich auch in der westlichen Welt autoritärere Staatsformen attraktiver – das russische Modell, oder das chinesische. Natürlich wolle man hier nicht mit diesen Systemen tauschen, hält Gentinetta fest. Doch man sehe, dass es andere Systeme gebe, die Entscheidungen fällen könnten, Ziele strategisch verfolgten «und dies einfach machen.»

Unter anderem damit erklärt sich Katja Gentinetta die erstaunlichen Erfolge populistischer Parteien und Personen in den USA, in Italien, Frankreich oder Deutschland. Sie stellt aber nicht nur eine Sympathie für autoritäre Regierungsformen fest, sondern paradoxerweise auch die Forderung nach mehr direkter Demokratie.

Hier habe die Schweiz den grossen Vorteil der über 100-jährigen Erfahrung mit dieser anspruchsvollen Staatsform: «Wir haben das geübt. Wir wissen, dass es Sinn ergibt, die Folgen zu bedenken und nicht nur nach den eigenen Interessen abzustimmen. Ich glaube, wir sind in dem langfristigen Trend der stärkeren Partizipation recht gut aufgestellt und das beruhigt mich ein Stück weit.»

Leistungsabbau steht bevor

Allerdings stosse auch das Schweizer Modell zunehmend an Grenzen – grosse Reformen erwiesen sich als schwierig, weil erstmals in der Geschichte auch über einen Leistungsabbau demokratisch entschieden werden müsse.

Gentinetta, die als ehemalige Vizedirektorin der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse einen wirtschaftsnahen Standpunkt vertritt, nennt als Beispiel die Rentenreform: «Man muss ein System nicht tendenziell abbauen, sondern ein wenig korrigieren. Das musste man bis jetzt nicht. Die Systeme konnten immer ausgebaut werden.»

Jetzt aber brauche es diese Korrektur. Ob die direkte Demokratie dazu fähig ist, müsse sich erst noch zeigen. Katja Gentinetta ist eher optimistisch. Die kürzliche Ablehnung der Selbstbestimmungsinitiave etwa zeuge von der Reife der Stimmenden.

Katja Gentinetta

Politphilosophin

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Die promovierte Politphilosophin ist unter anderem als Publizistin und Dozentin tätig. Sie moderiert die Talksendung «NZZ Standpunkte» und lehrt an verschiedenen Schweizer Universitäten. Von 2011 bis 2014 moderierte sie die Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF.

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