SRF News: Wieso reichen heute fünf Minuten, wenn Ärzte bislang zehn Minuten warten mussten bis der Tod festgestellt wird?
Jürg Steiger: Bisher galt in der Schweiz eine Wartezeit von zehn Minuten. International ist das verschieden (siehe Tabelle unten, Anm. der Red.) Die zehn Minuten beruhen nicht auf wissenschaftlicher Basis. Es ist eine Grösse, die man einmal festgesetzt hat. Dass es jetzt geändert wurde, hat mehrere Gründe. In der Schweiz wird Pulslosigkeit mit Ultraschall, dem Echokardiogramm, festgestellt. Nicht mehr wie früher oder in anderen Ländern mit Tasten des Pulses, etwa an der Halsschlagader.
Die Diagnostik per Ultraschall stellt sicher, dass keine Blutzirkulation mehr vorhanden ist und somit kein Sauerstoff mehr im Hirn ankommt. Beim Tasten kann es sein, dass ein gewisser Restfluss vorhanden ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied in der Diagnostik.
Das heisst, die Zahl der Minuten spielt gar keine so grosse Rolle, es geht im Wesentlichen darum, wie diagnostiziert wird?
Genau. Zudem ist der Hintergrund der Wartezeit, dass man in einer hoffnungslosen Situation sicher sein will, dass der Patient gestorben ist. Man sagt, dass nach einer gewissen Wartezeit und ohne Sauerstoff im Hirn kein Leben mehr möglich ist. Es wurde viel darüber diskutiert, wie lange diese «No Touch»-Zeit sein soll. Es gibt keine Studien, die diese konkret auf eine Minutenzahl festlegen.
Aber eine kürzere Zeit gibt mehr brauchbare Organe für Transplantationen.
Das ist bis zu einem gewissen Grad korrekt, zum Beispiel für die Leber. Diese Überlegung wurde in der Ethikkommission aber nie diskutiert. Wir haben uns mit der Frage befasst, wie der Tod sicher festgestellt werden kann. Nicht damit, wie die Organe nachher verwendet werden.
Die Richtlinien verlangen auch genauere diagnostische Abklärungen bevor der Hirntod festgestellt wird. Worum geht es da?
Der Hirntod ist eine ganz andere, aber sicher die häufigere Situation. 80 bis 90 Prozent der Todesdiagnostik sind Hirntoddiagnostiken. Neu wird verlangt, dass gewisse Untersuchungen durchgeführt werden müssen, bevor überhaupt mit der Hirntoddiagnostik begonnen werden darf. Diese Untersuchungen führen dazu, dass man versteht, wieso es zum Hirntod gekommen ist: Sei es eine bildgebende Diagnostik; ein Medikamentenspiegel, um eine Vergiftung auszuschliessen; oder auch eine Suche nach Infektionen.
Wenn die Angehörigen eine Organspende wirklich nicht wollen, muss man mit ihnen sprechen und ihnen das erklären. Man muss versuchen, ihnen verständlich zu machen, dass der Wunsch des Verstorbenen Vorrang hat.
Wann spricht der Arzt mit den Angehörigen eines Patienten über eine Organentnahme?
Der früheste Zeitpunkt ist, wenn der Entscheid gefallen ist, dass man die Therapie abbricht und die Situation hoffnungslos ist. Ab diesem Moment darf man mit dem Patienten über eine mögliche Organentnahme sprechen.
Die Richtlinien halten auch fest, dass bei Konfliktsituationen – wenn der Tote einen Organspendeausweis hat, die Angehörigen aber keine Organentnahme zulassen wollen – der Wille des Toten Vorrang haben soll. Ist das umsetzbar gegen den Willen der Angehörigen?
Das ist sicher schwierig, und es ist etwas, das vielfach auch nicht gemacht wurde. Man hat Rücksicht genommen auf Angehörigen und den Wunsch des Verstorbenen nicht berücksichtigt. Die Vorgaben im Gesetz und vom Bundesamt für Gesundheit sind aber klar: Es zählt der Wille des Verstorbenen. Im Prinzip muss man diesen Willen erfüllen und die Organe entnehmen. Wenn die Angehörigen das wirklich nicht wollen, muss man mit ihnen sprechen und ihnen das erklären: Man muss versuchen, ihnen verständlich zu machen, dass der Wunsch des Verstorbenen Vorrang hat.
Kritiker sagen, diese neuen Richtlinien würden die Hürden für Organentnahmen abbauen, die körperliche Integrität sei gefährdet. Was sagen Sie dazu?
Es ist keine Erleichterung der Hirntoddiagnostik. Sie ist kompliziert geblieben. Bei potenziellen Spendern, bei denen es keinen Kreislauf mehr gibt, braucht es das Echokardiogramm. Davor ist eine dreissigminütige Reanimation vorgeschrieben. Nach der Diagnostik des Pulses mit dem Echokardiogramm kommt die Wartezeit und schliesslich die Hirntoddiagnostik. Echo- und Hirntoddiagnostik gibt es in den meisten anderen Ländern nicht.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.