Dörfer gelten als idyllisch, Städte als pulsierend – die Agglomeration dagegen hat keinen besonders guten Ruf. Als gesichtsloses Zwischending ist sie verschrien. Als Ansammlung von Bausünden aus der Nachkriegszeit, gespickt mit Einkaufszentren und durchzogen von Durchgangsstrassen, an denen mobile Stände Güggeli vom Grill verkaufen.
Die Schweiz ist ein Agglo-Land
Doch allen Klischees zum Trotz: Die Agglomeration ist die Heimat der meisten Menschen in der Schweiz. Je nach Definition leben die Hälfte bis drei Viertel aller Einwohnerinnen und Einwohner in einer Agglogemeinde.
Regula Iseli, Architektin und Professorin am Institut Urban Landscape der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, geht sogar noch weiter. Sie betrachtet die Schweiz als «urbanisiertes Stadt-Land», als eine einzige grosse Agglomeration zwischen Genfer- und Bodensee, mit einzelnen Stadtkernen dazwischen. Sie sagt: «98 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind Städter, die in den Agglomerationen wohnen.»
98 Prozent der Menschen in der Schweiz sind Städter, die in den Agglomerationen wohnen.
Nur: Die Agglomeration ist seit den 1960er-Jahren zwar überall schnell gewachsen – aber häufig nicht sehr durchdacht. Das Resultat sind zusammengewürfelt wirkende Siedlungen ohne grossen Zusammenhang.
«Es gibt keine Merkpunkte, das ist das Typische in Agglomerationsgemeinden», sagt Architektin und ZHAW-Professorin Regula Iseli. «Wenn ich mich mit meiner Mutter in einer Stadt treffen will, dann ist das in der Regel einfach, dort gibt es Treffpunkte, die jeder findet. In einer Agglomeration fehlt das häufig.»
Spreitenbach: Agglo ohne Zentrum
Wie zum Beispiel in Spreitenbach im Kanton Aargau. Rund 12'000 Menschen leben in diesem Ort im Limmattal, der bekannt ist für die beiden 1970 und 1974 gebauten Shoppingzentren.
«Ein Gebäude mit vielen Parkplätzen rundherum – das war das Konzept der Einkaufszentren damals», sagt Spreitenbachs Gemeindepräsident Markus Mötteli. Treffpunkte für die Bevölkerung wurden im Innern der Zentren eingerichtet, in den «wetterfesten und vollklimatisierten Ladenstrassen», wie ein begeisterter Fernsehkommentator in den 1970er-Jahren berichtete. Gar ein «Dörfli» gab es darin, mit Riegelhausfassaden und Butzenscheiben. Öffentliche Räume im Freien? Fehlanzeige.
Spreitenbach – Leben im Schatten der Hochhäuser
Dass solche Räume wichtig sind, um einen Ort wohnlicher zu machen, ist den Behörden in Spreitenbach bewusst. Bis vor kurzem machte sich die Gemeinde stark für eine neue Überbauung rund um die Einkaufszentren, bei der verschiedene, gut zugängliche öffentliche Begegnungsorte Bestandteil gewesen wären. Die Gemeindeversammlung schob dem Projekt Anfang 2020 überraschend aber den Riegel vor.
Lag es an den geplanten 100 Meter hohen Hochhäusern, die Teil der Überbauung gewesen wären? An der Aussicht, dass Spreitenbach nochmals einen Wachstumsschub erleben sollte – wenn auch einen, der wesentlich geplanter und durchdachter schien als jener vor 60 Jahren? Laut Gemeindepräsident Mötteli ist das schwierig zu sagen. Klar bleibt für ihn aber: «Wir müssen weiter versuchen, den Raum um die Shopping-Hochhäuser zu öffnen, damit wir ein Zentrum für diesen Ortsteil schaffen können.»
Kriens: Nicht alle wollen Städter sein
Wie Spreitenbach hadern viele Agglomerationsgemeinden mit dem fehlenden Zentrum – manche ringen aber auch ganz grundsätzlich um ihre Identität. Sind sie noch ein Dorf oder bereits eine Stadt?
In der Luzerner Agglomerationsgemeinde Kriens ist diese Frage offiziell zwar geklärt: Seit einer Volksabstimmung von 2018 bezeichnet sich Kriens mit seinen 28'000 Einwohnerinnen und Einwohnern als Stadt. Neben einem neuen Stadtplatz gibt es aber weiterhin den alten Dorfplatz. Und die Leute, die dort an den Tischen eines Grillrestaurants ihren Kaffee trinken, haben eine klare Haltung. «Wir gehen nicht in die Stadt, wenn wir einkaufen gehen oder uns treffen», sagt ein Mann. «Wir gehen weiterhin ins Dorf.»
Kriens – eine Stadt sucht ihre Identität
Der Krienser Historiker Jürg Studer sieht das genauso. Der Begriff der Stadt passe nicht nach Kriens. «Im Grunde sind wir ein gewachsenes Dorf», sagt der 71-Jährige. «Wir haben keine Altstadt. Wir waren ein Bauerndorf, bis sich im 19. Jahrhundert ein paar Industriebetriebe hier niederliessen und nach dem Zweiten Weltkrieg der Wirtschaftsboom kam.»
Wir sind keine Stadt. Im Grunde sind wir ein gewachsenes Dorf.
Die Erinnerung an die dörfliche Vergangenheit lebt weiter im lokalen Brauchtum, etwa in der Fasnacht. Möglich, dass dieses Brauchtum mit ein Grund ist, warum so viele Einheimische am Bild des Dorfes festhalten. Sicher sei aber, sagt Studer: «Von den Alteingesessenen wird sich nie jemand als Städter fühlen.»
Bei den jüngeren, neu zugezogenen Krienserinnen und Kriensern sieht das anders aus. Die 23-jährige Sheila Zingg etwa käme nie auf die Idee, Kriens als Dorf zu bezeichnen.
Sie zog aus der eher dörflichen Luzerner Vorortsgemeinde Meggen nach Kriens, weil sie städtischer Leben wollte, wie sie sagt: «Ich wollte wieder in einer Umgebung leben, wo mehr los ist, wo ich Leuten begegne. Hier habe ich das.»
Zingg wohnt im Mattenhof, einem neu entstandenen Krienser Ortsteil an der Grenze zu Horw und zur Stadt Luzern. Die Häuser sind hoch und wuchtig, gewohnt wird hier nah aufeinander – aber eben auch mit einer grosszügigen Piazza und einem Brunnen für planschende Kinder, mit Restaurants und Läden.
«Ich lebe hier eindeutig städtisch», sagt die 23-Jährige. «Man sieht den Leuten zwar in die Wohnung, aber dafür kann man sich mit den Nachbarn auch von Balkon zu Balkon unterhalten.» Sie erlebe das neue Quartier nicht als seelenlose Schlafstadt, im Gegenteil: «Es gibt hier eine Art Gemeinschaftsgefühl.»
Riehen: Ein Dorf bleiben um jeden Preis
Ein derart urbanes Neubauquartier wäre in Riehen eher unwahrscheinlich. Denn trotz ihrer gut 21'000 Einwohnerinnen und Einwohner ist die Basler Agglomerationsgemeinde erpicht darauf, auf ihrem Gebiet so wenig Stadt wie möglich zuzulassen.
Das Bild der Gemeinde ist geprägt von viel Grün. Das kommt nicht von ungefähr: Reiche Basler Familien besassen in Riehen einst ihre Residenzen mit grossen Gärten und Parkanlagen, die heute zum grossen Teil öffentlich zugänglich sind. Und während in Basel und vielen Gemeinden rundum Hochhäuser aus dem Boden schiessen, lässt die Bauordnung in Riehen höchstens vier Stockwerke zu – auf rund 80 Prozent der bebauten Fläche sind die Gebäude nicht höher als zwei Stockwerke.
Riehen – dörflich geblieben dank viel Grün
Das alles zeigt: Riehen will das «grosse grüne Dorf» bleiben, als das sich die Gemeinde im offiziellen Slogan bezeichnet. «Wir definieren uns nicht über die Grösse, sondern über die Lebensqualität, die Riehen bietet», sagt Gemeindepräsident Hansjörg Wilde. «Man kennt sich und schätzt die Vorzüge, die ein Dorf hat.»
Historikerin Arlette Schnyder, die zusammen mit anderen Co-Autorinnen ein Buch über Riehen verfasst hat, erklärt das dörfliche Selbstverständnis mit einer Art Nostalgie nach einer Zeit, die es so vielleicht gar nicht gegeben hat. «Dahinter steckt die Idee von Bewohnerinnen und Bewohnern, im Grünen zu leben, an einem Rückzugsort, wo die Kirche noch im Dorf steht – auch wenn das mit der Realität gar nichts zu tun hat», sagt sie.
Thurgau: Viele Äpfel, kaum Nachtleben
Ruhe und Beschaulichkeit: Danach mögen sich viele Menschen sehnen, junge Leute gehören tendenziell eher nicht dazu. Das bekommt der Thurgau zu spüren, ein Agglomerations-Kanton ohne urbanes Zentrum: Die Jugend kehrt ihm den Rücken zu und wandert ab nach Zürich, Winterthur oder St. Gallen. Gesamthaft wächst die Thurgauer Bevölkerung zwar – bei den 15- bis 30-Jährigen schrumpft sie aber.
Das mag mit dem Ausbildungs- und Jobangebot in den städtischen Zentren zusammenhängen, doch für die Thurgauer Kabarettistin Martina Hügi erklärt dies nicht die ganze Abwanderung. Sie diagnostiziert dem Thurgau vielmehr ein «kulturelles Koma»: «Der Thurgau ist kulturell unterversorgt, dort geht man einfach in den Spunten und betrinkt sich», sagt sie. «Und wer als junger Mensch mehr will, der zieht halt weg, in eine Gegend, die ihm lebenswerter erscheint» Hügi lebt seit gut zehn Jahren in Winterthur, als eine von vielen «Winterthurgauerinnen».
Für Michael Lünstroht greift das zu kurz. Der Journalist leitet die Onlineplattform «ThurgauKultur» und hat täglich einen Überblick über Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen, die im Kanton Thurgau stattfinden. «Wer kulturell interessiert ist, findet im Thurgau genauso viele Anlässe wie an anderen Orten auch», sagt er. «Man muss sie vielleicht einfach ein bisschen intensiver suchen.»
Der Journalist glaubt, dass es das Selbstbild des Kantons ist, das viele Junge in die Flucht schlägt. Der Thurgau gefalle sich zu sehr in seiner Rolle als Landwirtschaftskanton und Apfelproduzent, findet er. «Ich fände es angemessen, wenn der Kanton auch mal ein neues Image für sich definieren würde. Wenn er sich überlegen würde, was er denn eigentlich sein möchte.»
Abschied vom ländlichen Idyll
Agglomeration neu denken also. Das ist auch das Credo von Architektin und ZHAW-Professorin Regula Iseli. Die Schweizerinnen und Schweizer müssten ihren Anti-Stadt-Reflex ablegen und den Traum vom Einfamilienhaus auf dem Land begraben, der laut Umfragen noch immer hoch im Kurs ist. «Das Leben auf dem Dorf, nach dem sich so viele Menschen sehnen, gibt es heute nicht mehr», sagt Iseli. «Unser Land ist weitgehend verstädtert.»
Das Leben auf dem Dorf, nach dem sich so viele Menschen sehnen, gibt es heute nicht mehr.
Dies anzuerkennen sei der erste Schritt, um die Agglo lebenswerter zu machen. Um die Gemeinden so weiterzuentwickeln, dass sie nicht mehr nur zum Wegpendeln taugten, sondern zu Orten würden, an denen die Menschen alles fänden, was sie im Alltag benötigten.
Besonders wichtig, sagt Iseli: «Räume mit einem Öffentlichkeitsgedanken. Plätze, wo ich merke: Da passiert etwas, da treffe ich Leute, da kann ich verweilen.» So würden Agglogemeinden zu Orten, an denen man lebt – und nicht bloss schläft.